UTOPIA - Sohrab Shahid Saless

Sexwellen, Kriminalspaß und andere Krautploitation.
Antworten
Benutzeravatar
Prisma
Beiträge: 5156
Registriert: Sa., 31.10.2020 18:11

UTOPIA - Sohrab Shahid Saless

Beitrag von Prisma »



Utopia.JPG

● UTOPIA / DAS FERNE LAND UTOPIA (D|1982)
mit Manfred Zapatka, Imke Barnstedt, Gundula Petrovska, Gabriele Fischer, Johanna Sophia, Birgit Anders, Barbara Beutler,
Bernhard Adami, Fritz Ebert, Johanna Ebert, Klaus Jepsen, Johanna Gerhard, Ursula Kessler, Albert Heins, Irma Jagow, u.a.
eine Produktion der Ullstein Tele Video | ZDF | Studio Hamburg | im Basis Film Verleih
ein Film von Sohrab Shahid Saless

Utopia (1).JPG
Utopia (3).JPG
Utopia (5).JPG
Utopia (6).JPG
Utopia (7).JPG
Utopia (8).JPG
Utopia (10).JPG
Utopia (13).JPG
Utopia (14).JPG

»Los, leck mich!«


Der Zuhälter Heinz (Manfred Zapatka) gestaltet eine Privatwohnung zu einem noblen Bordellbetrieb um. Aus unterschiedlichsten privaten Gründen arbeiten fünf Frauen dort zunächst freiwillig, die sich größtenteils auf Annoncen gemeldet hatten. Schon bald müssen sie erfahren, in welcher Hölle sie gelandet sind. Es gibt keine Privatsphäre, sie werden auf Schritt und Tritt überwacht, ausgebeutet, gedemütigt und ihr Zuhälter entpuppt sich als grausamer Sadist, der jede Regelwidrigkeit streng bestraft. Als Renate (Imke Bernstedt), Rosi (Gundula Petrovska), Susi (Gabriele Fischer), Helga (Johanna Sophia) und Monika (Birgit Anders) sich gegen ihren Schänder und Chef auflehnen, wird dieser Impuls mit hemmungsloser Gewalt erwidert …

Eine Straßennutte mittleren Alters wird in einen Oberklassewagen gezerrt. Es ist offensichtlich, dass sie einfach nicht mehr will und nicht mehr kann. Ihr Zuhälter macht nicht viel Aufhebens um die Situation, sie soll sich dick anmalen, ihre Fresse halten und aufhören zu flennen. Wie sich im Verlauf des Films noch herausstellen wird, ist Renate sein ältestes Pferdchen im Stall; was sie alles durchmachen musste, gleicht einer Hölle. Sie lässt sich wieder in die Spur bringen, immerhin weiß sie hinlänglich Bescheid über die Gewaltbereitschaft und sadistische Brutalität ihres Chefs, der ab sofort expandieren will. Jeweils kurze Szenen der zukünftigen Prostituierten in seinem Nobelclub zeigen unterschiedliche private Verhältnisse, dementsprechend auch verschiedene Motivationen, sich bei Heinz auf eine unscheinbare Annonce hin zu melden. Geldprobleme, Studium oder sonst etwas lassen die neuen Aushängeschilder des Clubs ihre Identität an der Garderobe abgeben. Zunächst läuft alles beinahe bürokratisch geordnet. Die Freier sitzen auf einer Besetzungscouch und suchen sich ihre Favoritin aus. Szenen gelangweilter Frauen beim mechanischen Beischlaf prägen das Bild der Arbeit in diesem Etablissement, ihr Chef greift alle naselang auch auf seiner Arbeiterinnen zurück. Der iranische Filmregisseur und Drehbuchautor Sohrab Shahid Saless zeichnet trostlose Bilder einer ekelerregenden Maschinerie aus Verzweiflung, Demütigung und Gewalt, sodass dem Publikum bei diesem seelenruhig ablaufenden Film klar ist, dass es keine Hoffnung für die fünf Frauen gibt. Bei einer ausladenden Länge von 187 Minuten lässt die Regie sich Zeit für Random-Schilderungen und fabriziert über dieses gewählte Schneckentempo eine unruhige Spannung, die in ihren Spitzen kaum auszuhalten ist. Wenn Gewalt und Willkür das Regiment führen, will man es kaum fassen, ist aber wie bei einem Unfall beinahe gezwungen, hinzuschauen. Man fragt sich, ob es sich nur um eines der vielen Märchen aus dem halbseidenen Milieu handelt, doch der völlig authentische Stil der Regie wirkt dahingehend wie eine Gewissheit, dass es sich jederzeit und überall genauso abspielen könnte. Wie trostlos das Ganze in Wirklichkeit abläuft, zeigt sich in Szenen, in denen es sich um Bagatellen oder Gegebenheiten handelt, die unabänderlich sind und dennoch hart geahndet werden.

Ein paar Schlucke Whisky von der Bar, die Renate nicht gezahlt hatte, werden von Heinz mit Kopfschlägen gegen die Theke quittiert. Diese 10 Sekunden dauern dem Empfinden nach wie eine Ewigkeit und genauso geht es auch weiter, denn jede von ihnen ist einmal wegen irgendetwas an der Reihe. Eine von ihnen bekommt ihre Periode, bittet um Pause, muss mit Heinz durch eine harte, widerliche Schule im Bad, um anschließend wieder anschaffen zu können. Schläge, Kopfnüsse und verbale Attacken schießen immer wieder ein, um die deprimierende Situation nicht nur zu modellieren, sondern sie gleichzeitig anzufeuern. »Ihr seht ja zum Kotzen aus!«, ist einer der morgendlichen Appelle an seine Crew, die jederzeit Akkuratesse zu bieten hat. Vom angeschafften Geld dürfen sie gerade einmal etwas über 15 Prozent in die eigene Tasche wirtschaften, sodass einige von ihnen erfinderisch werden. Dem Zuschauer ist klar, dass es auffliegen dürfte, denn der Zuhälter betreibt in seiner Freizeit eine lückenlose Bürokratie des Grauens. Kein Film ist nur so gut wie eines seiner Zahnräder alleine und hier finden sich günstige Voraussetzungen in allen wichtigen Bereichen. Der aus Bremen gebürtige Interpret Manfred Zapatka übertrifft sich hier selbst in einer Rolle zwischen weit entfernt von Gut und ebenso weit entfernt von Böse, denn es müssen andere Vokabeln bemüht werden, um diesen Herrn zu beschreiben. Er verfügt über eine niedrige beziehungsweise keine Hemmschwelle, folglich eine Art der eruptiven Brutalität, die ohne Weiteres provoziert und ausgelebt werden kann. Sein Mut, eine derart abstoßende, verachtenswerte und erschreckende Performance abzuliefern, ist anerkennenswert. Heinz setzt sich regelmäßigen Revierkämpfen aus, doch das ist nicht auf seine vier eigenen Wände bezogen. Eine der Frauen merkt einmal sinngemäß an, dass bei ihm durch zahlreiche Prügeleien irgendetwas im Kopf kaputtgegangen sei, doch der Zuhälter wird auch im späteren Verlauf von Renate, seiner ältesten Vollzeitkraft, charakterisiert. Er agiert emotionslos, egomanisch, besitzt kein Mitgefühl, kennt keine Gnade und der Wert des anderen ist für ihn nicht existent. Hierbei handelt es sich um eine großartige Leistung des Schauspielers, der in "Utopia" seine erste Kinohauptrolle gleich zu einem denkwürdigen Happening machen kann.

Ihm in jeglicher Hinsicht untergeordnet sind die Frauen, die zermürbende Frondienste zu leisten haben. Auch hier ergeben sich erstaunliche Darbietungen, die unterschiedliche Intentionen ausbuchstabieren. Man fragt sich offen, warum sie alle diese Hölle in vier Wänden aushalten können, doch die individuellen Situationen geben irrationalen Aufschluss. Renate hofft nach 20 Jahren wohl immer noch, dass sich irgendein Gefühl für sie entwickeln könnte, immerhin hatte sie sich als junge Frau in ihren Peiniger verliebt, der sie anfangs hofierte, um sie gleich auf den Strich zu schicken. Eine andere bildet sich ein, dass sie ihr Kind aus der Fürsorge zurückbekommen könnte, eine andere will sich das Studium erleichtern. So ergibt sich der schlüssige Titel der Produktion, der nicht vordergründig darauf bezogen zu sein scheint, dass es doch utopisch sein müsste, so eine Qual auszuhalten, oder dass es unrealistisch wäre, dass solche Machenschaften und Verhältnisse überhaupt existieren. So weist der vielsagende Titel auf die Utopie der Gedanken, Träume und Wünsche der fünf Frauen hin, die im Grunde genommen nur dazu gemacht sind, um sich in schwierigen Zeiten daran hochziehen zu können. Doch diese schwierigen Zeiten existieren leider toujours. Bemerkenswerte Leistungen liefern in diesem Zusammenhang Imke Barnstedt, Gabriele Fischer, Johanna Sophia, Birgit Anders und Gundula Petrovska, deren Fristen in klaustrophobischen Zuständen greifbar wirkt und tief in die Seelen der gebrochenen Frauen blicken lässt. Die Gesellschaft funktioniert bedauerlicherweise nicht annähernd so gut, um sie im Zweifelsfall auffangen zu können, also muss es weitergehen. Tag für Tag. Abend für Abend. Nacht für Nacht. Ewigkeit für Ewigkeit. Regisseur Sohrab Shahid Saless zeichnet ein provokantes Bild einer zweifellos bestehenden Tagesordnung und rollt seinen Beitrag mit irritierender Seelenruhe auf, um in den richtigen Momenten unbarmherzig zuschlagen zu lassen. Hierfür steht die Hauptfigur und die brillante Zeichnung Manfred Zapatkas, der einen das Fürchten und Ekeln lehrt. Erwähnenswert ist das packende Finale dieser sehenswerten Studie, welche eine besondere Überraschung bereithält. Besonders deswegen, weil man sie lange zuvor einkalkuliert hat, aber eben nicht, dass die eigene Vorstellungskraft durchaus ihre Grenzen hat. Erstklassig.

Benutzeravatar
Sid Vicious
Beiträge: 2405
Registriert: So., 01.11.2020 12:30
Wohnort: King´s Road 430

Re: UTOPIA - Sohrab Shahid Saless

Beitrag von Sid Vicious »

In den 1980ern erstmals beim ZDF geschaut und bis heute unvergessen.

Ich konnte meine Notizen vom 30. September 2011 entdecken:

Eine brutale und kritische Auseinandersetzung mit Isolation, Identitätsverlust, Demütigung und Hass sind die Hauptbestandteile von Sohrab Shahid Saless UTOPIA. Dieser spielt zu 99% in einer Stadtwohnung, die als Hort für ein illusionsloses und tiefdepressives Ambiente dient. Manfred Zapatka verkörpert in extrem fieser Weise die Rolle des Zuhälters Heinz, der 5 Frauen tyrannisiert und erniedrigt.

Es kommen die Fragen nach dem „Warum“ auf: Warum lassen sich die Frauen auf die unerträgliche Situation ein? Dieses geschieht nicht aus der sozialen Not heraus. Jede der Frauen strebt ein bürgerliches Leben an, kann allerdings nicht dem Sumpf der Erniedrigung entfliehen, da dieser mittlerweile zum alltäglichen Normalfall gewachsen ist. Die eigentliche Welt, die Welt außerhalb der Wohnungsmauern, ist zu einer fremden Welt gewachsen. Eine Welt, dessen Grundvorraussetzungen die Frauen ums Verrecken nicht mehr erfüllen können.

UTOPIA hat die Wirkung einer Wagner-Oper. Gerädert und erschöpft verlässt der Zuschauer nach ca. 3 Stunden knallhartem Tobak den Bildschirm - und hat verdammt viel zu verarbeiten.
BildBildBildBildBild

Benutzeravatar
Prisma
Beiträge: 5156
Registriert: Sa., 31.10.2020 18:11

Re: UTOPIA - Sohrab Shahid Saless

Beitrag von Prisma »

Sid Vicious hat geschrieben:
Mo., 15.09.2025 10:31
UTOPIA hat die Wirkung einer Wagner-Oper. Gerädert und erschöpft verlässt der Zuschauer nach ca. 3 Stunden knallhartem Tobak den Bildschirm - und hat verdammt viel zu verarbeiten.

Ja, das ist ein passender Vergleich und es ist tatsächlich so, dass einem die Bildeindrücke nachgehen. Ich habe noch Tage lang an "Utopia" und die Strapazen in Bildern denken müssen. Ob das alles nicht schon genug wäre, war es vor allem die hier servierte und völlig unbegreifliche Prognose, die nochmal einen draufsetzen konnte. Der Film kam mir trotz seiner ausladenden Tendenzen keine Minute zu lang vor. Eine handelsübliche Spielzeit von gut 90 Minuten hätte bestimmt nicht das gleiche Ergebnis erzielen können. Auf den Film bin ich übrigens auch nur per Zufall gekommen, als ich mir ausnahmsweise mal die weiteren Empfehlungen auf der DVD von "Sechs Wochen im Leben der Brüder G." angesehen hatte. Da waren übrigens noch andere solcher trostlosen Geschichten im Sortiment.

TRAXX
Beiträge: 465
Registriert: Fr., 30.10.2020 03:13

Re: UTOPIA - Sohrab Shahid Saless

Beitrag von TRAXX »

Kann den Lobpreisungen hier nur beipflichten. Fand den auch überraschend stark. Habe die BD seit Ewigkeiten auf dem Nichtgesehenen-Stapel vor mich hergeschoben, da ich überhaupt kein Freund von langen Filmen bin, aber als ich mal vergrippt war oder Corona hatte und das Bett hüten musste, war er fällig... und wow... was für ein Film!
Manfred Zapatka ist eine Wucht und liefert ein wahres Schauspiel-Tornado ab! Absolut irre und (für deutsche Schauspielkunst eher unüblich) sehr glaubhaft.

Benutzeravatar
Prisma
Beiträge: 5156
Registriert: Sa., 31.10.2020 18:11

Re: UTOPIA - Sohrab Shahid Saless

Beitrag von Prisma »

TRAXX hat geschrieben:
Mo., 15.09.2025 21:43
Manfred Zapatka ist eine Wucht und liefert ein wahres Schauspiel-Tornado ab!

Manfred Zapatka war mir zwar vorher schon durch zahlreiche Rollen aus einschlägigen deutschen Krimi- oder Familienserien ein Begriff - vor allem als Intrigant, Halsabschneider und Fiesling - aber so habe ich ihn bislang auch noch nicht erlebt. Er spielt seine Rolle, aber es ist hier schon erstaunlich, wie angewidert man zurückbleibt.

Antworten