● SCHREIE IN DER NACHT / CONTRONATURA (D|I|1969)
mit Joachim Fuchsberger, Marianne Koch, Dominique Boschero, Helga Anders, Giuliano Raffaelli, Luciano Pigozzi,
Gudrun Schmidt, Marianne Leibl, Marco Morelli, Lella Cattaneo, Giuseppe Marrocco und Claudio Camaso
eine Produktion der cCc Filmkunst | Edo | Super International Pictures | im Inter Verleih
ein Film von Antonio Margheriti
Nach eigenem Ermessen handelt es sich bei Antonio Margheritis "Schreie in der Nacht" um einen sehr faszinierenden cineastischen Exkurs, was vermutlich daran liegt, dass mehrere beliebte Genres wie Krimi, Giallo, Horror oder etwa Grusel eine beeindruckende Allianz miteinander eingehen. Ob vom Ergebnis her oder wegen der transportierten Emotionen, es stellt sich die Frage, warum letztlich ein Film vorliegt, der zu seiner Entstehungszeit vollkommen verhalten ,beziehungsweise gar nicht wahrgenommen wurde. Sicherlich gibt es dafür mehrere Gründe, doch die einfachste Erklärung ist wohl im größten Vorzug des Films zu finden, da die anwesenden Darsteller mitunter mit stilfremden bis zurückweisenden Interpretationen aus ihren üblichen Schablonen ausbrechen. Dies dürfte global gesehen die ultimative, vielleicht vernichtende Blockade gewesen sein, denn selbst 1969 war man wie es scheint noch nicht ohne Abstriche dazu bereit, die diskrete Progressivität des Films wahrzunehmen und anzuerkennen. Dass Margheriti sich gängiger Plot-Fragmente bedient, ist auf die Zeit bezogen mehr als nachvollziehbar, und dass man sich neben aller Vertrautheit nicht genierte Grenzen zu ignorieren, um sie schließlich zu überschreiten, ist hier sehr hoch anzurechnen. Um die Stärken der Produktion wahrzunehmen, sollte man sich vielleicht nicht auf einen Giallo reinster Seele einstellen, denn das möchte der Film im Grunde genommen oder primär auch nicht darstellen. Am Ende gibt er das auch nicht her. Seine übernatürlichen Elemente sorgen daher lediglich für eine Spiegelfunktion, der immer wieder die Realität hervorbringen wird, und das merkliche Krimi-Feeling kann einer wirtschaftlichen Orientierung zugute gehalten werden. "Schreie in der Nacht" ist vielleicht kein Meisterwerk geworden,denn dafür bleibt man trotz aller Provokation in zu sicherem Fahrwasser. Für einen persönlichen Hall-of-Fame-Beitrag reicht es allerdings spielend. Margheritis Arbeit wirkt vor allem wegen des mutigen Einsatzes seiner Darsteller_innen überaus anziehend, und wenn hier jemand zuerst betrachtet werden sollte, muss das unbedingt Marianne Koch sein.
Die zu diesem Zeitpunkt fast vierzigjährige Deutsche befand sich so gut wie am Ende einer erfüllten und nahezu unfreiwilligen Karriere, und es ist sehr anerkennungswürdig, dass sie fernab ihres bestehenden Images in völlig alternativ angelegten Rollen zu sehen war. Koch wirkt als Schauspielerin möglicherweise eher unauffällig, weil sich ihre Typisierungen dem Empfinden nach häufig ähnelten: Sie interpretierte die Verlässliche, die moralisch Unantastbare, die Konservative oder Erhabene, und vor allem die ewige Landärztin". Betrachtet man ihre Leistung in "Schreie in der Nacht", ist es in vielerlei Hinsicht überraschend, welche Wandlungsfähigkeit und Variabilität sie unter Beweis stellt. In diesem Zusammenhang wirkt diese Interpretation ein Stück weit beispiellos und so darf darüber philosophiert werden, welche Kapazitäten über all die Jahre nicht abgerufen wurden. Marianne Kochs Vivian wird als eine Frau integriert, die zunächst einen seriösen Eindruck macht. Sie hat Stil, ist kultiviert. Schnell stellt sich jedoch heraus, um welch zerrüttete und zutiefst einsame Frau es sich handelt. Die exemplarischen Veranschaulichungen in Rückblenden zeigen ihren aussichtslosen Kampf gegen ihre verborgene Neigung für attraktive Damen, an der sie in fataler Weise scheitern wird. Aus Zurückhaltung wird ein nicht länger zu unterdrückendes Interesse, aus Gier wird Manie und aus Affekt wird Schuld. Marianne Koch bekommt in dieser Handlung viele Nahaufnahmen, die Zooms konzentrierten sich auf ihre kraftvoll-fixierenden Augen, die wortlos und präzise das Spektrum ihrer Gefühlszustände schildern. Ein Erlebnis! Wenn Vivian an die Zweisamkeit mit ihrer Geliebten Elisabeth zurückdenkt, entstehen atemberaubend schön eingefangene Traumsequenzen. In einer wahren Choreografie der Sinne, unterstützt die wunderbare Musik von Carlo Savina diese Eindrücke im Hintergrund, bis die angedeuteten Berührungen der Lippen eine Hochspannung aufbauen, die durch die sich in Andeutungen verlierenden Kamera entschärft wird. Allerdings schießt immer wieder die Realität ein. Vivian sucht nach Zuneigung, möchte andere aber zur Liebe zwingen. Für ihre Verhältnisse ein wohl einmaliges Spektakel, im Gegensatz zu ihren Partnerinnen Helga Anders und Dominique Boschero, die mit derartigen Aufgaben durchaus vertraut waren.
Die Französin Dominique Boschero ist wie üblich umwerfend. Ihre Margarete arbeitet sich - andeutungsweise aus einem bestimmten Metier stammend - zielstrebig bis nach oben, und wird Vivians Objekt der ungestillten Begierde. Im Verlauf kommt es zum erbittertem Widerstand seitens Margarete und zu unerbittlichen Forderungen von Vivian, bis das Ganze in einem visuell und vor allem darstellerisch hoch prägnanten Showdown gipfelt. Helga Anders als Elisabeth wird im Szenario als Auslöser einer Kettenreaktion gezeigt, denn sie ist eine lebenshungrige und eigentlich rücksichtslose, in langweiliger Ehe stehende junge Frau, die hauptsächlich verführerisch, mit halboffenem Mund und aufforderndem Blick zu begutachten ist. Die knisternde Erotik wird demnach nicht neu erfunden, aber sie bekommt pikante Gesichter. Dominique Boschero ist in dieser Beziehung mit von der Partie und die Erotik-Einlagen wirken unter der Beteiligung von Marianne Koch zunächst eigenartig. Die Besetzungsliste wird von Joachim Fuchsberger angeführt, der sich diesmal nicht als Ermittler oder sympathischer Held präsentiert. Er darf sich hier einer seltenen Ambivalenz bedienen und macht seine Aufgabe in dieser für ihn ungewohnten Rolle sehr gut. Ben Taylor erlebte einen beruflichen Abstieg und ist nur noch Lakai seines ehemaligen Geschäftspartners. Sein Zuständigkeitsbereich ist die Drecksarbeit. Die Beziehung zu seiner Frau Vivian ist oberflächlich und zeichnet sich durch unterschiedlichste Erwartungshaltungen aus. Vivian soll in jeder Beziehung nur verfügbar sein und auf Abruf bereit stehen; Nebeneinander Herleben und kleine Affären sind an der Tagesordnung. Am Ende des Films bekommt man schließlich von Joachim Fuchsberger eine überaus denkwürdige Vorstellung geboten. Giuliano Raffaelli als Archibald Barrett ist die vollkommen verlebte und abstoßende Figur. Der ehemalige Partner von Ben hat diesen in der Hand, seine Geliebte ist Margarete, die sich längst mit Barretts neuem Verwalter vergnügt, der perfekt von Claudio Camaso dargeboten wird. Barrett trinkt, spielt, lebt in Saus und Braus und verfolgt nur ein Ziel, nämlich seine Macht auszubauen oder legitimieren zu lassen. So handelt es sich um ein Zusammentreffen der Präzisionsauftritte.
Antonio Margheritis Genre übergreifendes Hybrid ist vielleicht schnell auf die darstellerischen Leistungen reduziert und es besteht sogar die Gefahr, dass er gerade deswegen durchfällt, aber vor allem hier lässt sich der eigenwillige Mut des Films lokalisieren. "Schreie in der Nacht" stellt sich im Verlauf als eine überragende Assoziationskette heraus. Wer Rückblenden und Verschachtelungen schätzt, kommt bestimmt auf seine Kosten, außerdem leistet die Regie Außergewöhnliches im Bereich der zahlreichen gedanklichen Übergänge. Das Stilmittel der Wahl ist in diesem Zusammenhang die Konzentration auf die aussagekräftigen Augen der Darsteller, die auch ohne weitere Kniffe bereits Bände zu sprechen scheinen. Ein ausgiebiger Zoom auf beispielsweise Marianne Kochs eisblaue Augen, ein leerer, kalter Blick, der sich plötzlich in Ausdrucksstärke, Ekstase oder Hochmut verwandelt, bis sich der Zuschauer um Jahre zurück versetzt sieht, und den vermeintlich besseren Zeiten beiwohnen darf. Dieses Spiel mit Nähe und Distanz ist hervorragend, es entsteht insgesamt das Gefühl, dass man sich in einem Strudel befindet, aus dem man sich ebenso wenig befreien kann wie die Protagonisten. Genau genommen ist die Geschichte oft weit weg, da sie im ersten Impuls keinen Realitätstransfer bilden möchte, doch aufgrund der blendenden Charakterstudien fühlt man sich unter Umständen sogar einigen Personen im allgemeinsten Sinne vertraut, was sich vielleicht eher auf geschilderte Stimmungen und Gefühle wie Rache, Eifersucht, Resignation, Verzweiflung oder Glück bezieht. Des Weiteren wird ausgiebig mit Umkehrreaktionen gespielt, was das teils zu behäbig wirkende Erzähl-Tempo immer wieder aufhebt. Mit Carlo Savinas träumerischen Kompositionen werden Stimmungen geschaffen, die in Verbindung mit diesem isolierten Personenkreis in jeder Hinsicht bestimmend wirken. Wenn sich mit fortlaufender Zeit das Unausweichliche oder Unwahrscheinliche bündelt und sich unaufhaltsam zuspitzt, hätten manche Szenen zugegebenermaßen eine deftigere Bildsprache nötig gehabt. Nichtsdestotrotz bietet "Schreie in der Nacht" einen unkonventionellen Gegenentwurf an, der sich in aller Morbidität und Kälte optimal erschließt.