DAS LETZTE SCHWEIGEN - Baran bo Odar

Sexwellen, Kriminalspaß und andere Krautploitation.
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Maulwurf
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DAS LETZTE SCHWEIGEN - Baran bo Odar

Beitrag von Maulwurf »

Das letzte Schweigen
Deutschland 2010
Regie: Baran Bo Odar
Ulrich Thomsen, Wotan Wilke Möhring, Katrin Saß, Sebastian Blomberg, Jule Böwe, Burghart Klaußner, Karoline Eichhorn, Roeland Wiesnekker, Oliver Stokowski, Claudia Michelsen


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https://ssl.ofdb.de/film/197166,Das-Letzte-Schweigen

Im Sommer 1986 wurde die 11-jährige Pia vergewaltigt und ermordet. Der Mörder wurde nie gefunden. Jetzt, im heißen Sommer 2009, verschwindet die 11-jährige Sinikka. Pias Mutter ist alarmiert, der gerade in Pension geschickte Kommissar Mittich, der damals den Fall bearbeitete, dreht auf wie ein Hamster im Laufrad, sein neuer Kollege David Jahn macht den True Detective, und die Eltern Sinikkas verzweifeln an ihrem Schicksal. Aber eigentlich sind dies alles nur Nebenfiguren, denn für einen weiteren Menschen stürzt seine eigene kleine und mühsam zusammengehaltene heile Welt zusammen und die Hölle tut sich auf: Einer der beiden Mörder Pias, der seinen Hang zur Pädophilie nie erfolgreich überwinden, sich aber mit viel Durchhaltevermögen eine bürgerliche und grundsolide Existenz aufbauen konnte. Und den jetzt das Grauen einholt …

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Ich habe einen Film gesehen. Dieser Film war gut, aber in vielerlei Hinsicht war er auch sehr “deutsch“, und zwar im Hinblick auf die Attribute, die man im Allgemeinen mit “Deutschem Film“ in Verbindung bringt: Er wirkte oft konstruiert, händeringend auf gedankenvoll getrimmt, die Schauspieler gaben ihrem Hang zum Overacting nach und nuschelten gern, die Figuren waren öfters mal stereotyp, und die gezeigten Bilder symbolträchtig bis zum Abwinken. Kopflastig, sagt man dann gerne dazu und winkt ab.

Dass mir dieser Film trotzdem gefiel lag daran, dass die grunddüstere Geschichte aus einem interessanten Blickwinkel erzählt wurde, nämlich einem der Mörder Pias, der an seiner Schuld schier verzweifelt. Ihn, nämlich Wotan Wilke Möhring als Timo, begleiten wir über lange Strecken des Films auf seiner Reise in den Untergang. Verheiratet mit der umwerfend schönen Claudia Michelsen, 2 Kinder, elegantes Architektenhaus – Kurz: Alles im Lot. Aber da ist eben dieses Geheimnis, diese schreckliche Tat in seiner Vergangenheit, die ihn nun einzuholen droht, und die Timo in immer schwärzere Abgründe treibt.

Die andere Hauptfigur, der am Rand des Nervenzusammenbruchs wandelnde Polizist David Jahn (Sebastian Blomberg) ist da leider schon wesentlich schwächer angelegt. Er stolpert unsicher in den Film hinein und mäandert zwischen dem Verlust seiner Frau und dem ignoranten Vorgesetzten hin und her. Seine (sehr gute) Schlussszene, wenn er Pias Mutter nuschelig (schon wieder dieses Wort) nach der Dauer des Schmerzes versucht zu fragen, und sie ihm rundheraus erklärt, dass der Schmerz nie vergeht, diese Szene ist in vielerlei Hinsicht symptomatisch, und zeigt das grundsätzliche Problem des Films: Es ist eben alles zu kopflastig. Zu künstlich. Zu, im negativen Sinne, intellektuell. Über Pädophilie darf man eben keinen Film drehen der einen hohen Unterhaltungswert hat. Das wäre ein Sakrileg, und so etwas ahndet die Filmförderung mit Geldentzug.

Dank der Nebenfiguren, die wie erwähnt einen fatalen Hang zur Stereotypie haben, kommt der Film dann aber doch noch in sicheres Fahrwasser. Der Vorgesetzte Oliver Stokowski ist ein ignoranter Sesselfurzer wie man sich Karrieristen halt so vorstellt, die schwangere Assistentin (FARGO lässt grüßen) macht die Recherchearbeit quasi im Alleingang, während Jahn sich nächtelang in den Archiven vergräbt, und der pensionierte Ex-Bulle Mittich, der von diesem Fall nie wirklich lassen konnte, und auf der Stelle dreht wie ein Rennwagen mit angezogener Handbremse. Diese Figuren tragen den Film und machen ihn, bei aller Vorhersehbarkeit ihres Verhaltens, zu etwas Lebendigem, zu etwas Greifbarem. Die Eltern Sinikkas haben die absolut stärkste Szene, wenn sie aus dem Fernsehen erfahren dass nach ihrer Tochter gefahndet wird, und der heimliche Star des Films ist dann Ulrich Thomsen als Peer Sommer. Der Pädophile. Der Mörder. Der Sammler entsprechender Videofilme und DVDs, und zwar schon seit fast 20 Jahren. Der als Hausmeister lieb und freundlich ist, den alle seit Jahrzehnten kennen und schätzen, und der immer für alle da ist. Auch für die kleinen Mädchen. Ja, Ungeheuer sehen nicht immer alle aus wie Donald Trump …

Mein Fazit: Gut, spannend, düster, aber mit einem unglückseligen Hang zur besagten Kopflastigkeit. Wie ein ähnlich gelagertes Thema dann schlussendlich spannender und (noch) schwärzer umgesetzt werden kann, konnte dann vier Jahre später mit der ersten Staffel TRUE DETECTIVE bewundert werden. Und es ist auf jeden Fall hochinteressant zu sehen, wie sehr sich die Figuren der beiden Formate ähneln.

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Meine Frau, die Mutter einer 15-jährigen Tochter, hat einen Film gesehen. Einen Horrorthriller, der ihr fast den Schlaf geraubt hat. Düstere, brutale Bilder, schwarze Gestalten, Abgründe menschlicher(?) Seelen. Ein fast unerträglicher Druck, der ihr das Zuschauen zum Alptraum machte, und von dem sie doch nicht wegschauen konnte. Schon die ersten 15 Minuten, die Vergewaltigung und Ermordung Pias, sind ausgesprochen unangenehm und lassen die Zuschauerin unruhig werden. Auch hier ist einer der Höhepunkte des Films wieder die Szene, in der die Eltern Sinikkas beim Fernsehen erfahren müssen, dass ihre Tochter offiziell vermisst und nach ihr gefahndet wird. Die Ignoranz des leitenden Polizisten tut doppelt so weh, und Peer Sommers Maske der Normalität wirkt unerträglich höhnisch und grotesk. Die Schwäche und Verwirrtheit David Jahns ist da wohltuend und zeigt jemanden, der sich auf andere Menschen einlassen kann und ihre Gefühle respektieren würde, wenn er nicht so sehr in seinem eigenen Schmerz gefangen wäre. Die Figuren sind jede in ihrer eigenen Welt eingekerkert, unfähig, über die eigenen Mauern hinauszuschauen, und damit ziemlich lebensecht angelegt. Was den Schrecken natürlich noch verstärkt.

Für meine Frau war DAS LETZTE SCHWEIGEN ein Horrorfilm par Excellence. Sie möchte nichts wissen von Erzählrhythmus, von Bildsymbolik, von den Ausdrucksmöglichkeiten der Schauspieler und denen des Drehbuchs. Sie hat einen Film gesehen, der den größten Alptraum einer Mutter zeigt, nämlich dass die eigene Tochter spurlos verschwindet. Und dieser sehr spannende und drückend bebilderte Film hat sie sehr mitgenommen.

Zu dieser Gefühlswelt habe ich wenig Zugang. Haben Männer im Allgemeinen wenig Zugang. Weswegen ich den Besprechungen, die so im Internet und anderswo zu finden sind, nur bedingt zustimme. Denn es sind immer die Sichten von Männern, und nur selten diejenigen von Frauen bzw. Müttern. Vor allem sind es immer die Sichten von Filmfans, die sich mit der Materie des Films beschäftigen und Dinge wie Symbolik, Schnitttechnik oder Musikeinsatz bewerten. Und niemals die Sichten von Menschen, die dem größten Grauen, das sie sich vorstellen können, entgegentreten müssen. Denn auf dieser Ebene funktioniert der Film extrem gut, fast zu gut.

Eine Bewertung? Schwierig. Als männlicher Filmfan vergebe ich 6 von 10 unbeschrifteten Filmhüllen, aber die Mutter vergibt eher 9 von 10 Holzkreuzen. Mein Tipp an alle männlichen Filminteressierten wäre, sich den Film gemeinsam mit einer Mutter anzuschauen. Die eigene Perspektive wird sich ungemein erweitern …

7/10

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