DER SCHLITZER VON LONDON - John Brahm

Slasher, Backwood, Grusel oder auch herber Splatter: der Platz für die dunkle Seite des amerikanischen Films
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Percy Lister
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DER SCHLITZER VON LONDON - John Brahm

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"Der Schlitzer von London - Der Mädchenmörder" ("The Lodger") (USA 1944)
mit: Merle Oberon, George Sanders, Laird Cregar, Sir Cedric Hardwicke, Sara Allgood, Aubrey Mather, Queenie Leonard, Doris Lloyd, David Clyde, Helena Pickard u.a. | Drehbuch: Barré Lyndon nach dem Roman von Marie Belloc Lowndes | Regie: John Brahm

Das Londoner East End wird seit geraumer Zeit von grauenvollen Frauenmorden erschüttert. In den Nebelnächten geht ein Mann in Whitechapel um, der seinen Opfern zuerst die Kehle durchschneidet und sie dann verstümmelt. Die Bevölkerung beobachtet die Mordserie mit einer Mischung aus Schrecken und Faszination, auch das Ehepaar Bunting zeigt großes Interesse an dem Fall. Eine misslungene Börsenspekulation sorgt dafür, dass die Familie Zimmer vermieten muss und so zieht eines Abends ein Mann namens Slade bei ihnen ein. Er stellt sich als Pathologe vor, der ein ruhiges Quartier für seine Experimente suche und vor allem des Nachts unterwegs sein werde. Kitty Langley, die Nichte von Mrs. Bunting, ist Schauspielerin und hat am Varieté großen Erfolg. John Warwick von Scotland Yard arbeitet an der Aufklärung der Morde und trifft bei seinen Ermittlungen auch auf Kitty, die eines der Opfer kannte und durch ihren Beruf selbst in größter Gefahr schwebt.....

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Der Hamburger Regisseur John (Hans Julius) Brahm inszenierte den Roman von Marie Belloc Lowndes im Gothic-Stil, ebenso deutlich sind auch die Einflüsse des deutschen Expressionismus spürbar. Das Böse, das seinen Ursprung in der menschlichen Seele findet, tritt in dämonischer Weise in den Vordergrund und pflügt eine Schneise des Todes durch einen sozial benachteiligten Stadtteil. Die Morde, welche offscreen stattfinden, werden durch ausführliche Milieuzeichnungen kompensiert, was dem Spannungsfaktor nicht unbedingt zuträglich ist. Die Inszenierung bleibt hier sehr zurückhaltend, was sicher auf das Produktionsjahr zurückzuführen ist - mehr als den Arm einer Toten im Rinnstein bekommt das Publikum nicht zu sehen. Das viktorianische Flair lähmt die Handlung und zeigt, dass der Film zu großen Teilen schlecht gealtert ist. Der Staub von Jahrzehnten liegt auf dem Zelluloid, aus dem die weibliche Hauptdarstellerin Merle Oberon wie ein funkelnder Edelstein hervorsticht. Selbst Laird Cregar scheint streckenweise zu behäbig, wenn sich Unterhaltungen mit seiner Hauswirtin in harmlosem Plauderton abspielen, ohne dramaturgische Unterstützung in puncto Unbehagen. Die Thematisierung der Gesellschaftsschicht, aus der die Opfer stammen, bietet musikalischen Varieté-Einlagen mehr Platz als nötig. Erneut wurde davon ausgegangen, dass schaurige Ereignisse durch Humor-Puffer abgefedert werden müssen, um dem Zuschauer das Gefühl zu nehmen, es mit einem abgrundtief schwarzen Ambiente zu tun zu haben. Leider ist diese Mentalität des "relief from the suspense", wie Alfred Hitchcock sie einmal nannte, im Kriminalfilm-Genre weit verbreitet und zerstört regelmäßig die atmosphärische Dichte eines Thrillers. Im zeitlichen Kontext betrachtet spielen hier natürlich Auflagen der Zensur mit hinein bzw. die Ansicht der Produzenten, dass ein Film für ein breiteres Publikum konzipiert werden müsse und deshalb nicht zu pessimistisch gestaltet werden dürfe.

In der Titelrolle des Untermieters sehen wir mit Laird Cregar einen relativ unbekannten Mimen, dessen Größe und Physiognomie Eindruck machen. Sein Auftreten entspricht dem eines Gentleman, doch eine innere Unruhe trübt die Gelassenheit seiner finanziell sichergestellten Klasse. Die heitere Atmosphäre im Hause Bunting, die vom Charme und der Zuversicht einer Frau profitiert, wird von dem Mann argwöhnisch beobachtet, der seine festen Prinzipien im Alten Testament bestätigt sieht und durch den Selbstmord des von ihm vergötterten Bruder einen unbändigen Hass gegen Bühnendarstellerinnen pflegt. Das Weibliche bzw. die Schönheit als Quelle des Bösen, das man vernichten muss, ist ein Motiv, das den emotional restriktiven Mediziner umtreibt, seine "Kunst" nicht zum Wohle der Menschen, sondern für die Befreiung der Menschheit vom Laster und den Verführungen leichtfertiger Frauen, einzusetzen. Die Liebe, die ihn mit dem verstorbenen Bruder verband, dessen Miniatur er wie einen Schatz hütet, deutet auf eine homosexuelle Neigung hin, die den latent vorhandenen Maskulinismus noch verstärkt. Religiöser Wahn und Frauenhass gingen damals wie heute in vielen Kulturen Hand in Hand. Die stimmige Ausleuchtung der Sets, die Kameraeinstellungen und die Kulissen vertiefen die unheimliche Aura von Mr. Slade. Unterstützt wird er im Finale von raffinierten Licht- und Schatteneffekten, ungewöhnlichen Perspektiven, wobei er generell meist von unten gefilmt wird, um ihn noch bedrohlicher erscheinen zu lassen. In seiner Anonymität gestört, agiert er wie ein Tier, das in die Enge getrieben wurde und nun nach einem Ausweg sucht, um seinen Häschern zu entkommen. Nun zeigt er all seine unberechenbare Kraft, die in ihm schlummert und darauf wartet, zum Einsatz zu kommen, während er sich kultiviert und bescheiden gibt und darauf bedacht ist, keinen Fehler zu machen. Die Morde dienen ihm als Befreiungsschlag auf Kosten von verachteten Kreaturen.

George Sanders gibt einen gebildeten, freundlichen und korrekten Inspektor von Scotland Yard. Er begegnet Hauptdarstellerin Merle Oberon höflich, aber nicht überschwänglich und deutet seine Zuneigung zu ihr erst während des Besuchs im Kriminalmuseum an, als er sie zum Tee bittet. So verzichtet dieser Kriminalfilm weitgehend auf das Klischee der bedrohten Schönheit, die sich hilflos in die Arme des breitschultrigen Ermittlers flüchtet. Kitty Langley hat sich durch Fleiß und Engagement im Berufsleben etabliert und kann dem Inspektor deshalb auf gleicher Augenhöhe begegnen. Sanders kombiniert deshalb weniger in Gesellschaft von Oberon, als im Beisein von Hardwicke, mit dem er Fingerabdrücke untersucht und das verlassene Haus observiert. Der Kontrast zwischen den dunklen, nebelverhangenen Gassen Londons und der lichtdurchfluteten Atmosphäre der Bühne, zeigt sich deutlich und wird durch die Heimlichkeiten des Mieters immer wieder durchbrochen. So finden sich in den nächtlichen Experimenten von Mr. Slade jene Momente wieder, die in der Romanvorlage bereits für wohlige Schauer sorgten und als Nachwirkung der Morde für Spannungsmomente dienen, die der Film dringend benötigt und die gerne eine deutlichere Ausrichtung erfahren hätten können. Die stärksten Szenen des Films leben von den Geheimnissen des Mieters, der zwischen bedrohlichen Schatten, dem Flackern des Gaslichts und verwinkelten Straßen seinen passenden Rahmen findet. Die Opulenz des zeitlichen Kontextes verwässert die harten Fakten des Kriminalfalls leider durch Elemente, die in Filmen, welche in der viktorianischen Zeit angesiedelt sind, oftmals eine Identifikation des Publikums verhindern. So wirkt auch der ungewöhnliche Laird Cregar durch dieses Korsett stellenweise eingeschränkt, obwohl er optisch durchaus als Repräsentant einer vergangenen Zeit wirkt, was seine Ausnahmestellung beabsichtigt unterstreicht.

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