SCHIESSEN SIE AUF DEN PIANISTEN - François Truffaut

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Maulwurf
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SCHIESSEN SIE AUF DEN PIANISTEN - François Truffaut

Beitrag von Maulwurf »

Schießen Sie auf den Pianisten (François Truffaut, 1960) 6/10

Schießen Sie auf den Pianisten.jpg

Charly spielt abends in einer heruntergekommenen Tanzkneipe Klavier, zusammen mit einer heruntergekommenen Kapelle. Als sein Bruder Chico, der einiges an krummen Dingern dreht, vor ein paar Gangstern flüchten muss, werden die Verfolger zu Charly geführt. Als die Gangster wissen wollen wo Chico steckt, wenden sie sich also folgerichtig an Charly: Sie entführen ihn und seine neue Liebe Lena, und als das nichts bringt entführen sie Charlys kleinen Bruder Fido. Dabei ist, was aber nur Lena wirklich weiß, Charly eigentlich keiner, der in irgendwelchen halbseidenen Sachen steckt. Charly, das war mal der gefeierte Konzertpianist Edouard Saroyan, der den Freitod seiner Frau nicht verkraftet, und sich aus dem Leben zurückgezogen hat. Aber jetzt, für Fido und für Lena, muss er wieder ins Leben treten …

In den USA wäre SCHIESSEN SIE… ein düsterer Gangsterflick geworden, eine späte Sternstunde des ausgehenden Film Noir. Aber Truffaut macht irgendwie etwas ganz anderes, etwas ganz eigenes daraus. Trotz der bekennenden Liebe der Nouvelle Vague-Regisseure ist SCHIESSEN SIE… eben keine Kopie eines US-Gangsterstreifens geworden. Der Film wirkt eher wie eine Fingerübung, wie ein luftig-melancholisches Schlendern durch das Paris der Hinterhöfe und Winz-Bistros, wie eine Vignette, basierend auf den Themen Liebe und Tod. Nie drängt sich, trotz der Thematik, eine Schicksalsschwere auf, und nie lamentieren die Charaktere über ihr trauriges Los. Die Frau stirbt? Das Leben geht weiter, wenn auch eine Ecke einsamer. Eine Zigarette, einen Pastis, und der nächste Tag kommt bestimmt. Diese Leichtigkeit die sich durch den Film zieht, und die vortrefflich mit Topoi des klassischen Noir korrespondiert (der “Held“ spricht mit sich selbst um den Zuschauer über seine Gedanken zu informieren, Menschen mit einer versteckten Identität, das Leben am unteren Ende der Gesellschaft), die macht viel Atmosphäre aus. Oft spielt Truffaut sogar mit der Handlung, und scheint manchmal fast zu vergessen welche Geschichte er erzählen wollte. Aber er findet immer wieder zurück, und unterhält mit narrativen Schlenkern und Trillern wie ein virtuoser Pianist. Ein erzählerischer Vorgänger von Klaus Lemke, ein Film wie ein kleines Obsttörtchen: Jeder Bissen schmeckt anders, jeder Bissen ist eine Überraschung. Und nach dem Genuss des Ganzen will man mehr …!

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