DAS AUGE - Claude Miller

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Percy Lister
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Registriert: Sa., 14.11.2020 16:15

DAS AUGE - Claude Miller

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"Das Auge" (Mortelle randonnée) (Frankreich 1983)
mit: Michel Serrault, Isabelle Adjani, Geneviève Page, Sami Frey, Guy Marchand, Stéphane Audran, Jean-Claude Brialy, Dominique Frot, Patrick Bouchitey, Macha Méril, Philippe Lelièvre u.a. | Drehbuch: Michel Audiard, Jacques Audiard | Regie: Claude Miller

Privatdetektiv Beauvoir, genannt "Das Auge", hat die Trennung von seiner Tochter nie verwunden. Seine Frau Madeleine hat ihn nach zwei Jahren Ehe verlassen und Marie mitgenommen, die einzige Erinnerung an sie ist ein Klassenfoto, das sie im Alter von neun Jahren zeigt. Allerdings weiß Beauvoir nicht, welches der abgebildeten Mädchen Marie ist. "Das Auge" erhält von seiner Detektivagentur den Auftrag, einen wohlhabenden jungen Mann zu beschatten, dabei beobachtet er, wie dessen Leiche im Morgengrauen von einer Frau im See versenkt wirkt. Er heftet sich ihr an die Fersen und stellt mit Erstaunen fest, dass sie noch weitere Männer ermordet und dabei jedes Mal eine andere Identität benutzt. Nach und nach vermutet Beauvoir, dass es sich bei Catherine Leiris um seine Tochter handelt....

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Eine Vorliebe für Birnen und Shakespeares Tragödie "Hamlet - Prinz von Dänemark" begleitet die Frau mit dem Gesicht einer Botticelli-Madonna durch mehrere Staaten Europas, wobei die Spur, die sie hinterlässt, mit tiefrotem Blut getränkt und vorerst nur für einen ersichtlich ist. Ihr unbewegtes Antlitz starrt den Betrachter feindselig an, wobei ihr Gesicht wie eine Maske wirkt, die ihr Gegenüber einschüchtert und ihm seine Grenzen aufzeigt. Tritt sie zu Beginn mit wiegenden Hüften und schnellen Schritten auf, um ihr Selbstbewusstsein zu unterstreichen, so verändert sich ihre Körperhaltung mit jedem Rückschlag und der damit verbundenen Gefahr der Enttarnung. Ihre Eigenwahrnehmung wird negativ behaftet, sie versucht zunächst, zu verdrängen, sieht sich dann jedoch in eine Sackgasse manövriert, wo es gilt, erst einmal abzuwarten und dem Gegner keine neuen Argumente zu liefern. Ebenso wie sie unter verschiedenen Namen firmiert, wandelt sie die Geschichte ihrer Herkunft fortwährend ab, als wolle sie ausprobieren, welche Variante die beste wäre. Isabelle Adjani macht es sich bei ihrer Rollenauswahl nicht leicht; schwierige, unbequeme Charaktere sind das Markenzeichen ihrer anspruchsvollen Interpretationen. Sei es nun die unglückliche Tochter des französischen Nationaldichters Victor Hugo (1975), die aufopferungsvolle Lucy Harker am Rande der größten europäischen Seuche (1979) oder die eigensinnige Margaux inmitten eines blutigen Religionskrieges (1994). Die Faszination, die sich aus ihrer Ausstrahlung ergibt, benötigt weniger Worte, im Gegenteil. Ihr ebenmäßiges Gesicht fungiert als Leinwand, auf der sich die großen Dramen des Lebens abspielen und Leid fast immer im Trotz erstickt wird. Die Frauenfiguren, welche Adjani darstellt, beschreiten Wege, die ihre Geschlechtsgenossinnen in der Regel meiden, weil sie Gefahren bergen, die letztlich Ächtung, Vernichtung und Tod bedeuten. Das Risiko zu scheuen ist jedoch keine Option, sie würde nur Schwäche und Mutlosigkeit signalisieren - keine Attribute für die starke, selbst bestimmte Frau. Wie bereits sein Lehrmeister Francois Truffault wirft auch Claude Miller einen analytischen Blick auf seine weiblichen Protagonistinnen.

Michel Serrault, mit dem Miller gerade "Das Verhör" gedreht hatte, übernimmt in "Das Auge" die Rolle des alleinstehenden Privatdetektivs. Sechs Jahre vorher verlor der Schauspieler eine seiner beiden Töchter bei einem Unfall, kann also persönliche Parallelen zu seiner Figur ziehen. Er zeichnet das Porträt eines einsamen Mannes, der sich privat und beruflich mit dem Lösen von Rätseln beschäftigt. Sie stellen die Herausforderung dar, die es zu bewältigen gilt, wenn das Leben seine Struktur behalten soll. Serrault wirkt so, als verfolge er seine Aufgaben nur beiläufig, als gäbe er sich keine große Mühe, doch in seiner Unauffälligkeit liegt der Schlüssel zu seinem beständigen und letztlich zielführenden Handeln. Die Identifikation mit Catherine Leiris führt dazu, dass er ihre Gedanken weiterspinnt und Beweise für ihre Schuld vernichtet. Er deckt sie, schützt sie und bangt um sie - ohne dass sie es merkt. Die Handlung erfährt immer wieder abrupte Brüche und erlaubt es der weiblichen Hauptfigur nicht, sich in einem Charakter dauerhaft einzurichten. Gewöhnung bedeutet Stillstand, nachlassende Wachsamkeit birgt die Gefahr der Entdeckung und so kommt auch Detektiv Beauvoir nicht zur Ruhe, sondern sieht sich gezwungen, seinen Standort laufend zu wechseln, machtlos, Catherine zu stoppen oder ihr gegenüber zu treten und seine Gedanken zu artikulieren. Sami Frey fällt die enigmatische Rolle des kultivierten und wohlhabenden Blinden zu, bei dem Catherine das erste Mal echten Rückhalt erfährt und es für einen Moment so aussieht, als hätte die Jagd ein Ende. Beauvoir seinerseits wird aktiv, weil er die Beherrschung verliert, um die er so lange Zeit bemüht war. Er greift kalten Blutes in das Geschehen ein, weil er sich verdrängt sieht. Zur selben Zeit betreten Guy Marchand und Stéphane Audran die Bildfläche, wobei besonders Audran ins Auge fällt, ist man von ihr doch mondänere Interpretationen gewöhnt. Die Schauspielerin, die im Laufe der Jahre u.a. so renommierte Auszeichnungen wie den "Silbernen Bären", den "César" und den "Nastro d'Argento" erhalten hat, erkennt man zunächst in ihrer alltäglichen Maske der Unscheinbarkeit nicht wieder, doch sobald ihr Temperament gereizt worden ist, entladen sich der Frust und der Ärger von Jahren in wenigen markanten Augenblicken. Wie eine Leuchtrakete verpufft ihre Energie in einem finalen Showdown.

Hochwertige Leistungen quer durch alle Bereiche (Darsteller, Musik, Ausstattung, Schauplätze und Drehbuch) lassen den Film zu einem nachhaltigen Ereignis werden, wobei die "Chronik des Films" es mit ihrem Fazit wieder einmal kurz und bündig auf den Punkt bringt: "Der Film ist eine Mischung aus Melodram, Psychothriller und schwarzer Komödie, gespickt mit Witz und Ironie. Beim Publikum ruft er vielfach Irritationen hervor." Isabelle Adjani und Michel Serrault transportieren scheinbar unterschiedliche Motivationen, gleichen sich jedoch in vielen emotionalen Aspekten, die sie zu dem werden ließen, was sie heute darstellen. Erstklassig!

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