DER JUNGE TÖRLESS - Volker Schlöndorff

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Prisma
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DER JUNGE TÖRLESS - Volker Schlöndorff

Beitrag von Prisma »



DER JUNGE TÖRLESS


● DER JUNGE TÖRLESS / LES DÉSARROIS DE L'ÉLÈVE TÖRLESS (D|F|1966)
mit Mathieu Carrière, Marian Seidowsky, Bernd Tischer, Fred Dietz, Lotte Ledl, Jean Launay und Barbara Steele
eine Franz Seitz Produktion | Nouvelles Éditions de Films | im Nora Filmverleih
ein Film von Volker Schlöndorff

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»Der Stumpfsinn hier macht mich ganz krank!«


Thomas Törless (Mathieu Carrière) kommt in ein kaiserliches und königliches Jungen-Internat. Als der großspurig veranlagte und zur Angabe neigende Mitschüler Anselm von Basini (Marian Seidowsky) seine Geldnöte mit Diebstahl lösen will, und dabei ertappt wird, gerät Törless in eine ausweglos wirkende Situation, denn Basini wird von zwei Mitschülern erpresst und muss sich fortan deren Wünschen und Neigungen beugen. In einer geheimen Kammer kommt es zu Sadismus und Folter, bis hin zu sexuellen Übergriffen. Als Mitwisser findet Törless keinen vertretbaren Mittelweg zwischen Mittäterschaft und moralischen Ansichten, sodass er die Situation schließlich verschärft, indem er schweigt. Als Basini die immer unerträglicher werdenden Zustände nicht mehr aushalten kann und sich an die Schulleitung wenden will, rufen seine Peiniger ihre Kameraden zur Lynchjustiz auf, und es kommt zu einem Skandal...

Mit der Wendung anspruchsvolles Kino kommen einem persönlich ganz bestimmte Filme in den Sinn, und Volker Schlöndorffs Drama "Der junge Törless" zählt unbedingt zu diesen Exemplaren. Naturgemäß handelt es sich dabei solchen um keine Filme, die man sich aus unterhaltungstechnischen Gründen häufig ansieht, sondern es geht primär um das Verstehen und das Begreifen. Auch bezüglich der Exposition dieser 1966 entstandenen Produktion sind manche Veranschaulichungen nicht direkt zu ordnen, obwohl Volker Schlöndorff hier durchaus Wert auf eine sozusagen kognitive Zange legt, um sich im Gegenzug weitgehend harte und sichtbare Schocks aufzusparen. In Gedanken spielt sich aufgrund der dichten Erarbeitung allerdings genügend Schauriges ab, sodass man sich oft zum Wegschauen oder noch viel eher zum Weghören animiert fühlt. Die Grundthematik entfaltet innerhalb eines kaiserlichen und königlichen Deckmantels einen nahezu widerwärtigen Beigeschmack. Jungen sollen darauf vorbereitet werden, eines Tages Männer zu werden, doch die meisten von ihnen spielen bereits das Mann sein. Dabei zeigen sich die unterschiedlichsten Herangehensweisen, deren Ursprung aber immer der Gleiche ist: Jeder hält sich für wertvoller als seinen Kameraden. Man könnte meinen, dass der Geschichte auf Basis dieser Grundvoraussetzungen groteske Formen zuteil werden, aber scheinbar ist ausschließlich das Gegenteil der Fall, denn alles wirkt greifbar, rational und sehr ernüchternd. Wenn man das Internat als Helfershelfer eines Systems ansehen will, so zeigen sich die klassischen Gesetze innerhalb hinlänglich bekannter Hoheitsstrukturen und Hierarchieverhältnisse. Eindimensionale Theorien sollen in die Praxis umgesetzt werden, irregeleitete Intelligenz nimmt die seltsamsten Formen an, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse entwickeln ein gefährliches Eigenleben. Die Schüler aus gutem Hause sollen in einem ebenso angesehenen Institut zu Aristokraten erzogen werden, doch wie sich insbesondere am Beispiel der Protagonisten zeigt, fehlt es an Reife, Einsicht und Erfahrung. Dieses sich schnell entlarvende Prinzip ist im Grunde genommen simpel. Werden die auferlegten Strukturen angenommen, oder besser gesagt erduldet, so erweisen sich die akribischen Blicke der Obrigkeit als ungenau und es werden gewisse Zugeständnisse gemacht.

So dürfen die Schüler beispielsweise weltlichen Genüssen jeder Art nachgehen, wie Spiel- und Trinkrunden im ansässigen Wirtshaus, oder die dorfbekannte Dirne kann genau wie die Wirtin vom Andrang der Internatsschüler leben. Törless kommt als Neuling in das Internat, seine Mutter hegt dabei die besten Absichten und hat große Hoffnungen, denn sie möchte ihrem Jungen alle Möglichkeiten bieten. Schnell wird der in sich gekehrte und beobachtende Schüler in die Gemeinschaft aufgenommen, und es entsteht eine Art Mitläufertum, das noch intensivere Formen annehmen wird. Zunächst ist zu sagen, dass die Titelfigur durch Mathieu Carrière einen Brillantschliff bekommt, und man kann betonen, dass diese Leistung im Orbit der Interpretationen bei Jungschauspielern nach ihresgleichen suchen darf. Wie üblich beeindruckend, wenn nicht sogar herausragend in Körpersprache und Mimik, fungiert Carrière alias Törless als Beobachter, Skeptiker, aber auch als Mittäter. Die Selbstfindung wird hier mit einfachen stilistischen Mitteln gelöst. In einer Szene mustert er zu Beginn beispielsweise die Kellnerin, man sieht ihre Finger in Großaufnahme, oder ihren Mund mit den Bewegungen ihrer Zunge. Das gleiche geschieht mit seinem Kollegen Beineberg, den er ebenso interessiert beobachtet und die Kamera die gleichen Merkmale in den Vordergrund hebt. Männliche und weibliche Attribute werden gegeneinander gestellt und es bleibt offen, welche für den Zeitpunkt als interessanter eingestuft werden. Aufgezeigt wird also ein Zustand der Selbstfindung, was besonders deutlich wird, als Törless ein Gespräch mit seinem Mathematiklehrer führt, in welchem sich herausstellt, dass er daran interessiert ist, seine Skepsis zu ordnen, und dass er eigentlich verkrampft auf der Suche nach Konstanten ist. Der Sinn des Daseins wird auch hier nicht geklärt werden können, sodass sich der Schüler verstärkt an seinen stark auftretenden Mitschülern Beineberg und Reitling orientiert, die ihren Mitschüler Anselm von Basini im Visier haben, und quasi am lebenden Objekt üben. Dabei heraus kommen einschneidende Grenzüberschreitungen, Erniedrigungen, Züchtigungen und Sadismus, bis hin zu sexuellen Übergriffen.

Törless fühlt sich von allen Auswüchsen dieser Situation einerseits angezogen, aber andererseits auch abgestoßen. Auch er wird in der Rolle des Mitläufers gleichzeitig zum Täter, und die Frage nach aktiver oder passiver Schuld wird gleichgestellt. Sich auflehnen würde bedeuten, dass er auf Basinis Stufe gedrängt würde, oder sogar noch eine Ebene tiefer. Die Angst vor Konsequenzen der anderen, aber auch die geheime Lust, eine Machtposition auszunutzen, wird sehr interessant und stichhaltig herausgearbeitet. Die Jungdarsteller Bernd Tischer, Marian Seidowsky und Fred Dietz füllen ihre Rollen bemerkenswert aus. Im Besonderen ist jedoch noch die Engländerin Barbara Steele zu erwähnen, deren beinahe bizarre Schönheit wie ein Fremdkörper in dieser Einöde wirkt. Als offensichtlich alleinerziehende Mutter eines kleinen Kindes, verdient sie ihren Lebensunterhalt auf Internatskosten, indem sie die jungen Schüler empfängt. Bei Barbara Steele wirkt es hier wie eine kleine Fingerübung, diese Charakterrolle glaubhaft zu transportieren, wenngleich ihre Szenen im Gesamtgeschehen sehr knapp ausgefallen sind. Schlöndorffs Zentrierung liegt auf der Entwicklung des jungen Törless, die der weitere Verlauf eindeutig belegt. Das Gewissen meldet sich, wird allerdings durch Gruppenzwang und Neugierde am Verbotenen immer wieder überlagert. »Sie quälen mich noch tot!«, bekommt man irgendwann von dem verzweifelten Opfer der Willkür um die Ohren geschlagen und als Zuschauer sieht man sich und den Verlauf auf eine Katastrophe zusteuern. Insbesondere die Dialoge sorgen immer wieder für die Gewissheit, dass sich die vielen Andeutungen der Abscheulichkeiten auch tatsächlich abspielen. Im visuellen Bereich werden einem Details allerdings beinahe komplett erspart. Lediglich das Finale animiert, den Atem anzuhalten und auch die Prognose wirkt alles andere als erbaulich. "Der junge Törless" bekam seinerzeit hervorragende Kritiken und wurde mit dem Filmband in Gold für Regie und Drehbuch ausgezeichnet. Volker Schlöndorff ist es gelungen, seinen Film mit einem Seziermesser anzufertigen, um sich vollkommen auf wesentliche Komponenten zu konzentrieren. Im Endeffekt wirkt es ernüchternd, wenn der Rest nur Schweigen sein wird, aber der Film ist in seiner Fasson absolut sehenswert.

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