DIE AKTE ODESSA - Ronald Neame

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Prisma
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DIE AKTE ODESSA - Ronald Neame

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● THE ODESSA FILE / DIE AKTE ODESSA / DER FALL ODESSA (US|GB|D|1974)
mit Jon Voight, Maria Schell, Mary Tamm, Derek Jacobi, Ernst Schröder, Peter Jeffrey, Kurt Meisel, Klaus Löwitsch, Hannes Messemer,
Günter Strack, Christine Wodetzky, Hans Caninenberg, Wolfgang Lukschy, Werner Bruhns, Alexander Golling, und Maximilian Schell
eine Produktion der Columbia Pictures | Domino Productions | Oceanic Filmproduktion | Bavaria | im Warner-Columbia Filmverleih
ein Film von Ronald Neame


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»Völker sind nicht böse. Nur einzelne Menschen sind es!«


Der Journalist Peter Miller (Jon Voight) will im Auftrag des israelischen Geheimdienstes die weitverzweigte Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen - genannt Odessa - zerschlagen. Diese Organisation ist nicht nur verantwortlich dafür, dass ehemalige SS-Leute unbehelligt nach Südamerika flüchteten, um eine neue Identität anzunehmen, sondern auch für die Ermordung einer seiner Freunde. In dessen Tagebuch liest er über unglaubliche Gräueltaten und einen Kommandanten namens Eduard Roschmann (Maximilian Schell), einer Person bei dessen Erwähnung er stutzig wird, weil der sogenannte Schlächter von Riga einen Offizier ermordet hatte. Doch was steckt dahinter? Miller begibt sich auf die Suche nach Roschmann, doch dafür muss er sich unter gefährlichen Umständen in die Odessa einschleusen lassen. Wird er den ehemaligen Kommandanten ausfindig machen und die Geheimorganisation vernichten können..?

Ronald Neame inszenierte mit "Die Akte Odessa" einen spannenden Polit-Thriller, der sich mit den Phantomen aus einer dunklen Zeit beschäftigt. Es lässt sich nicht leugnen, dass man im Rahmen der Abhandlung einen sehr hohen Wahrscheinlichkeitsgrad wahrnehmen kann, und überhaupt soll sich der Film weitgehend an historischen Tatsachen orientiert haben. Abgesehen davon liegt es aber absolut im Bereich des Möglichen, dass derartig weit-vernetzte Strukturen auch damals und eventuell auch heute noch existieren, nur die jeweiligen Namen dürften dabei variieren. Die Bedrohung erschließt sich hier auf potentieller Ebene, da die Odessa-Mitglieder gezwungen sind, sich zu verbergen und unauffällig zu bleiben. Betrachtet man die neuen Existenzen dieser Personen, so staunt man über das unbehelligte und luxuriöse Leben dieser Herrschaften, sodass der Verlauf naturgemäß einen Appell an das Gerechtigkeitsempfinden startet. Die Schilderung zeigt sich gerne unverblümt, in Verbindung mit diversen Ansichten und dazu passenden Dialogen wird eine hohe Abneigung erzeugt. Manche Gräueltaten die hier nur sporadisch Gestalt in Bild, Wort und Tat erhalten, entfalten einen schockierenden Charakter, was sich weiter in den Gedanken des Zuschauers abspielen wird. »Die Welt ist nun mal krank!«, bekommt man als einfache Lösung zu hören, und unterm Strich bleibt sogar eine allgemeine Zustimmung, wenn man eine solche Geschichte verfolgen darf. Die Produktion wirkt im vollen Umfang hochwertig gestaltet und klar bis ausgefeilt aufgebaut, Neame beweist ein gutes Gespür bei der Dosierung in den Bereichen Spannung und Spektakel, allerdings wirkt auch dieser Verlauf trotz der immer wieder geschilderten Abscheulichkeiten streckenweise ruhig. Genau hierbei entsteht auch die empfundenermaßen befremdliche Atmosphäre, die allerdings sehr gut in die weitgehend mysteriöse Geschichte hineinwirkt. Als Leitfaden fungiert das Tagebuch in dem Peter Miller liest und man per Off-Stimme alle wichtigen Informationen erhält. Die damit verbundenen Rückblenden wirken wie Puzzle-Stücke, die der Verlauf schließlich lückenlos ordnen wird. Im darstellerischen Bereich hat "Die Akte Odessa" eine bemerkenswerte Entourage zu bieten, welche bis in die kleinsten Nebenrollen traumhaft dicht besetzt ist.

Jon Voight wirkt als Journalist Peter Miller sehr überzeugend, was angesichts der Tatsache, dass er in nahezu jeder Szene zu sehen ist, sehr begrüßenswert oder viel mehr wichtig ist. Er liest sich zunächst in dunkle Geheimnisse und nebulöse Machenschaften hinein, bis er auch selbst aktiv wird und sein Ziel verfolgt. Dem Zuschauer ist seine Motivation zwar nicht unklar, allerdings ahnt man, dass mehr dahinter steckt als nur ein journalistisches Interesse. Miller bereitet sich für einen möglichen Trip in die Hölle vor, dabei macht er eine regelrechte Verwandlung durch und überzeugt mit einer kühlen Leistung unter hohem Distanzaufbau, dennoch kann er den Zuschauer spielend auf seine Seite ziehen. Neben Voight gibt es ansonsten quasi keine groß angelegten Rollen mehr, sondern Kurz- Gast-, oder Kleinstauftritte sehr bekannter Darsteller. Maximilian Schell überzeugt mit Arroganz und Brutalität, man sieht, dass seine Figur sich zum Großteil ihres Lebens die Anpassungsfähigkeit zu Dienste gemacht hat. Er nimmt eine schauerliche Gestalt an und scheint in jeder auch noch so bedrohlichen Situation stets Oberwasser gewinnen zu können, sodass man den Eindruck bekommt, dass dieses hohe SS-Tier noch mehr Leben als eine Katze zur Verfügung hat. Seine Schwester Maria Schell sieht man in lediglich einer Szene als Mutter des Protagonisten, aber für diese kurzen Stargast-Auftritte wurde die stets diszipliniert wirkende Schauspielerin gerne gebucht - vornehmlich auch auf internationalem Parkett. Die Liste der bekannten Darsteller ist in "Die Akte Odessa" allerdings so ausgeprägt, dass man teilweise gar nicht weiß, wo man noch hinschauen soll. Insbesondere von deutscher Seite geben beispielsweise Ernst Schröder, Christine Wodetzky, Kurt Meisel oder Klaus Löwitsch sehr erinnerungswürdige Profile ab, ja, es ist eine Pracht dieser unglaublich dichten Besetzung zu folgen. Neames Film reduziert sich allerdings nicht nur auf diesen Bereich und hat weitaus mehr zu bieten. Der Plot ist intelligent und spektakulär ausgearbeitet worden, die Geschichte ist teilweise unmissverständlich konkret, obwohl man den Verlauf lange zu ordnen hat, und es kommt vereinzelt zu lauten Ausbrüchen der Produktion. Allerdings ist es hauptsächlich die Sprache einiger verstörender Bilder in lediglich wenigen Sequenzen, die Erschütterung und Leid transparent machen. Schützenhilfe leisten diverse Dialoge, die einem mit Nazi-Parolen und unerträglich subversiv klingenden Phrasen regelrecht um die Ohren fliegen. "Die Akte Odessa" zeigt sich in Ausarbeitung und Stil auf gehobenem Niveau, überzeugt trotz der langen Spieldauer von 120 Minuten von Anfang bis Ende. Ein ernstzunehmender Beitrag, dessen mahnender Charakter auch nach Jahrzehnten noch seine Bedeutung hat. Klasse!

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Richie Pistilli
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Re: DIE AKTE ODESSA - Ronald Neame

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Eine sehr beeindruckende Romanverfilmung, die den Mythos der vermeintlich netzwerkartig agierenden Nazi-Organisation ODESSA (Organisation der ehemaligen/entlassenen SS-Angehörigen) erstmals 1974 der breiten Öffentlichkeit preisgab. Der Film entpuppt sich als ein spannungsgeladener Thriller, der mich nicht nur von Beginn an mitriss, sondern auch bis zur letzten Minute fesselte. Insgesamt eine stimmige Inszenierung, in der obendrein ein ganzer Haufen an gut gelaunten Schauspielern mitspielt: Neben dem US-amerikanischen Hauptdarsteller Jon Voight brillieren deutsche Filmstars wie beispielsweise Klaus Löwitsch, Maria Schell, Maximilian Schell, Günter Strack, Wolfgang Lukschy sowie die aus Österreich stammenden Herbert Fux, Oskar Werner und Kurt Meisel.

Wäre super, wenn der Film auch hierzulande endlich eine BD-Auswertung zugesprochen bekäme, denn die deutsche Synchro ist absolut top. Das einzige Manko der deutschen Kinofassungen sind ein paar landestypische Kürzungen, die unverblümt die Paradoxie aufzeigen, wie ernst man sich hierzulande tatsächlich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen wollte.


Prisma hat geschrieben:
So., 22.11.2020 15:03
Es lässt sich nicht leugnen, dass man im Rahmen der Abhandlung einen sehr hohen Wahrscheinlichkeitsgrad wahrnehmen kann, und überhaupt soll sich der Film weitgehend an historischen Tatsachen orientiert haben. Abgesehen davon liegt es aber absolut im Bereich des Möglichen, dass derartig weit-vernetzte Strukturen auch damals und eventuell auch heute noch existieren, nur die jeweiligen Namen dürften dabei variieren. Die Bedrohung erschließt sich hier auf potentieller Ebene, da die Odessa-Mitglieder gezwungen sind, sich zu verbergen und unauffällig zu bleiben.

Soweit ich weiß, handelt es sich bei dem sagenumwobenen "Netzwerk" ODESSA nach den letzten Erkenntnisständen auch weiterhin nur um einen Mythos, da bis zum heutigen Tag kein handfester Beweis vorgefunden werden konnte, der die Existenz der neonazistischen Vereinigung als "festehende" sowie "welweit agierende Organisationsstruktur" belegt. Weder ein spektakulärer Fund im Jahr 2017 von NS-Devotionalien in Argentinien, noch Simon Wiesenthal selbst, konnten dazu beitragen, die Existenz des ODESSA-Netzwerkes mit handfesten Beweisen zu belegen. Und auch die Auswertung der Stasi-Akten brachte keinerlei Erkenntnisse über die Existenz der ODESSA zu Tage, obwohl die Stasi den Mythos propagandistisch verwertete, indem sie an der Legendbildung munter mitwirkte. So gesehen, betrieben sie eine frühe Form von Desinformationsverbreitung.

Was aber unstrittig ist, ist die Tatsache, dass es ein gut laufendes Zusammenspiel unterschiedlichster Akteure gab, durch das einer hohen Zahl an NS-Kriegsverbrechern die erfolgreiche Flucht ins Ausland ermöglicht wurde. Neben ehemaligen SS-Mitgliedern wirkten beispielsweise neonazistische Vereinigungen, der Vatikan, das Rote Kreuz oder auch der argentinische Diktator Juan Perón als Schlüsselakteure an dem gut organsierten 'braunen Fluchthilfenetz' mit, indem sie beispielsweise solch hochrangigen Kriegsverbrecher wie Eichmann, Mengele, Priebke, Barbie oder Brunner die erfolgreiche Flucht von Deutschland aus, über die 'Rattenlinie' folgend und von dort aus in zahlreiche Länder dieser Welt ermöglichte. Ein weiteres braunes Kapitel aus Nachkriegsdeutschland, das ebenfalls zwingend einer schonungslosen Aufarbeitung bedurft hätte.


Laut einem Beitrag der taz soll Simon Wiesenthal auch dem britischen Journalisten Frederick Forsyth von ODESSA erzählt haben. "Forsyth wiederum schmückte die Geschichte aus und macht daraus seinen Besteller DIE AKTE ODESSA. Er beschrieb darin eine geheime NS-Organisationen namens Odessa, die Kriegsverbrechern die Flucht nach Südamerika ermöglicht. Und natürlich war genau so etwas seit 1945 geschehen".



Noch ein letzter Gedankengang, der mir im Rahmen der aufgedeckten Skandaldimension der gefälschten Hitler-Tagebücher (#1 -- #2 -- #3) gekommen ist:
Ist zufällig jemand bekannt, ob in der deutschen Filmindustrie nach 1945 ebenfalls Schindluder mit Geschichtsklitterung betrieben wurde? Beispielsweise könnte sich eine Synchro mit bewusst revisionistischen Anleihen gut dazu eignen.




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