DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Türkploitation, isländische Kannibalenfilme und alles andere aus Europa
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Prisma
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DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Prisma »

DER SCHLAFWAGENMÖRDER


● MÖRDAREN - EN HELT VANLIG PERSON / DER SCHLAFWAGENMÖRDER / SCHLAFWAGENMÖRDER (S|1967)
mit Allan Edwall, Lars Ekborg, Karl-Arne Holmsten, Heinz Hopf, Britta Pettersson, Elsa Prawitz, Ewa Strömberg,
Curt Masreliez, Björn Gustafson, Christina Carlwind, Nils Hallberg, Julie Bernby, Tore Bengtsson und Erik Hell
eine A-Produktion | im Verleih der NWDF-Unitas
ein Film von Arne Mattsson


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»Auf die Polizei kann man sich verlassen. Die machen aus einem Mord einen Unfall...«


Die Fahrgäste des Nord-Express ahnen noch nicht, welch chaotischer Nacht sie entgegen sehen werden. In einen unbeobachteten Moment stößt ein Killer eine junge Frau aus dem fahrenden Zug und niemand bekommt etwas von den Vorfall mit, bis es zu einem weiteren Mord kommt. Das Opfer ist erneut eine junge, blonde Frau. Lena (Britta Pettersson) entdeckt die schreckliche Tat und betätigt die Notbremse. Aufgeschreckt von der allgemeinen Hysterie, kommen die Gäste des Zuges zusammen, und auch wenn sich gewisse Fraktionen unter ihnen bilden, blickt man sich gegenseitig überaus skeptisch an, denn jeder Einzelne von ihnen steht ab sofort unter Mordverdacht. Inspektor Holm (Erik Hell) untersucht den Fall, doch steht zunächst vor einem Rätsel, da das Motiv fehlt. Wer ist der Schlafwagenmörder..?

Arne Mattssons "Der Schlafwagenmörder" versucht, Krimi- und Thriller-Elemente miteinander zu vereinen; außerdem bietet das Vakuum Zug trotz des nur spärlich vorhandenen Platzes zusätzlichen Spielraum für erotische Einlagen, sowie verkappt wirkende Präsentationen rund um die Zwischenmenschlichkeit aller Couleur. Der deutsche Kino-Aushang kündigt in diesem Zusammenhang sogar vollmundig einen »Sex-Krimi« an, der in der Bundesrepublik erst 1969, also über zwei Jahre nach seiner Entstehung, in die Kinos kam. Viel zu spät für einen Film in Schwarzweiß, dessen eher konventioneller bis konservativer Stil keinen bedeutenden Transfer in die End-60er Jahre herstellen will, was insbesondere für die angebotene Exposition gilt, die seinerzeit bereits ganz andere Blüten trieb. Nichtsdestotrotz kann der Film bei bestehender Krimi-Affinität sehr gut unterhalten, da etliche Komponenten zusammenkommen, die sich über viele Jahre bewährt hatten. Bereits der Einstieg empfiehlt sich aufgrund seiner außerordentlich dichten Atmosphäre. Türklingen bewegen sich wie von Geisterhand, die schwarzen Handschuhe des Phantoms greifen nach einer attraktiven Blondine, deren Schreie wegen der typischen Akustik des Zuges im Fahrtwind verstummen, bis sie schließlich gegen die hohe Geschwindigkeit des Zuges den Kürzeren zieht und spurlos verschwindet. Die Kamera bleibt hierbei stets hoch aufmerksam. Interessant ist, dass dieser Mord unter den Fahrgästen völlig unbemerkt bleibt und sich die Inszenierung ab sofort sehr ausgiebig mit dem Vorstellen der Haupt- und Nebenpersonen dieser turbulenten Fahrt befasst.

Lange Dialoge bestimmen die weitere Fahrt in einer Melange aus Monotonie und Raffinesse, und es dauert seine Zeit, bis der nächste inszenatorische Paukenschlag zu sehen ist. Die Regie legt ihr Augenmerk auf eine sehr intensive Vorstellung der Reisenden, bei der signifikante Unterschiede angesichts der Charaktere herausgearbeitet werden können. Zwar wirkt die Kreation der Verdächtigen hin und wieder allzu bemüht, aber es kann sich ein Whodunit-Krimi entwickeln, dessen Stärke es sein wird, den Zuschauer weitgehend im Dunkeln tappen zu lassen, da man zunächst überhaupt keine Hintergründe angeboten bekommt. Sicherlich hat der aufmerksame Kenner derartiger Formate schnell seine Hauptverdächtigen im Visier, doch das Motiv will sich einfach nicht in den Mittelpunkt stellen. Alle Personen kennen sich bis auf wenige Ausnahmen nicht, haben dem Empfinden nach auch nichts miteinander gemein, da man sozusagen Tops und Flops der Gesellschaft vorgestellt bekommt. Neben den Interpreten sieht man zeitgebundene Moralvorstellungen als zusätzlichen Fahrgast mit Stammplatz, sodass die teils gewagt angebahnte Bebilderung rund um Nacktheit, tatsächliche sowie vermeintliche Perversion und Libido im Schutzmantel der Prüderie fast ergebnislos zurück bleibt. So schildern Sequenzen beispielsweise die sogenannte wilde Ehe und das damit verbundene Versteckspiel eines jungen Pärchens, oder die harten Arbeitsbedingungen einer Prostituierten, die Bekanntschaft mit den exklusiven Wünschen eines Herren der gehobenen Klasse macht.

Da der Zug nach dem zweiten Verbrechen zum Stillstand kommt, weil die Notbremse betätigt wurde, bekommt der bislang passable Erzählfluss dem Empfinden nach einen Knick, doch dieser Eindruck bestätigt sich nicht, da die Arena Zug gegen eine andere - nämlich das Haus eines Bahnhofsvorstehers - ausgetauscht wird ausgetauscht wird, und die Polizei nach der Hälfte des Films kompetent zum Zuge kommt. Die Inspektoren-Figur wird von Erik Hell sehr individuell gezeichnet und man wird mit einem ruhigen, unaufgeregten Zuhörer konfrontiert, dem man die Klärung der Vorfälle durchaus zutraut, wenngleich seine Arbeit rückblickend nicht besonders transparent geschildert wird. Allerdings ist es eine Wohltat, ihm dabei zuzusehen, wie theatralische Selbstinszenierungen, falsche Fährten oder Tendenzen der Selbstjustiz an ihm abprallen, beziehungsweise von ihm abgeschmettert werden. Am Ende besitzt er natürlich den richtigen Riecher, den er alleine schon vom Drehbuch zugebilligt bekommt, allerdings kann das Finale - mit oder ohne Vorhersehbarkeit - überzeugend bis überraschend wirken. Der ausschließlich schwedische Cast kann ohne ausnahmen überzeugen; vor allem Allan Edwall, Lars Ekborg und Heinz Hopf spielen sich immer wieder gekonnt in den Vordergrund. Erwähnenswert ist außerdem Ewa Strömberg, der hier so anders als in ihren wesentlich bekannteren Auftritten wahrzunehmen ist. Zwar ist sie innerhalb ihrer bereits vorgefertigten Rollen-Schablone schon komplett textilfrei zu sehen, aber sie hat zusätzlichen Raum zur Verfügung, der über die bloße Beschau und Großaufnahme hinausgeht.

"Der Schlafwagenmörder" lässt sich insgesamt in zwei Teile gliedern. Die erste Hälfte im fahrenden Zug handelt die plastische Darstellung des Filmtitels und die Vorstellungen, beziehungsweise Interaktion unter den Personen ab, um in der zweiten Hälfte eine ganz andere Dynamik anzunehmen. Außenaufnahmen mit der Suche nach der Leiche lockern das Geschehen auf, sogar ironische und karikaturistische Untertöne werden in sanfter Art und Weise laut. Auch für irritierende und aufwühlende Veranschaulichungen wird sich kurz Zeit genommen, sodass man der Regie einen gewissen inszenatorischen Ideenreichtum nicht absprechen kann, wenngleich die Produktion ihre weitgehend konventionelle Schiene nie wirklich verlassen möchte. Ein paar Personen schüren gegen Ende zusätzliche Zweifel und versuchen den Verdacht abermals auf sich zu lenken. Selbst ein weiterer Mord lässt nicht auf sich warten. Die mittlerweile entstandene Vernetzung zwischen den Personen lässt einige Außenseiter als potentielle Mörder übrig, auch simple Indizien veranlassen selbsternannte Hobbydetektive dazu, sich zu Richtern aufzuplustern. Dass Inspektor Holm dem Anschein nach zu oft aus der zweiten Reihe zusieht wie sich die Situation entwickelt, nimmt der Geschichte ein wenig an kriminalistischer Struktur, um letztlich einen psychologisch motivierten Schatten zu zeichnen. Das Finale des Films ist unterm Strich gelungen, obwohl es alles zwischen Unglaubwürdigkeit und Überraschung anbieten möchte. Alles in allem ist "Der Schlafwagenmörder" jedoch als gelungen zu bezeichnen und richtet sich ganz offensiv an Fans klassischer Kriminalgeschichten.

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Sid Vicious
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Sid Vicious »

Den habe ich mir vor ein paar Tagen gemeinsam mit zwei weiteren Filme aus der Vintage Movie Classics-Reihe zuglegt. Das die Strömberg mit am Start ist (das ist mir erst später aufgefallen), hat meine Freude über den Erwerb erhöht.
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Prisma
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Prisma »

Sid Vicious hat geschrieben:
Sa., 07.11.2020 12:13
Das die Strömberg mit am Start ist (das ist mir erst später aufgefallen), hat meine Freude über den Erwerb erhöht.

Ewa Strömberg war seinerzeit der Hauptgrund, warum ich überhaupt auf diesen Film aufmerksam wurde. Ihre schwedischen Filme sind für mich leider immer noch unbeschriebene Blätter und ich hoffe, dass sich das irgendwann mal ändern wird. Ich bin mir sicher, dass da sind ein paar interessante Sachen dabei sind. In "Der Schlafwagenmörder" macht sie wie üblich eine sehr gute Figur und die Rolle weist schon auf ihre späteren Einsatzgebiete im deutschen Film hin: Sex & Crime, auch wenn es hier und da ein paar Ausnahmen gab. Mir hat die Geschichte jedenfalls auch sehr gut gefallen.

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Sid Vicious
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Sid Vicious »

Ich habe ein paar wenige Titel aus Schweden. Durchwachsenes: Wide Open - Erotische Sklavinnen, Maid in Sweden, Gutes: Verbotene Früchte der Erotik und Hervorragendes: Das Schwedenmädchen Anita, Thriller - Ein unbarmherziger Film
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Prisma
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Prisma »

Schwedische Filme habe ich insgesamt kaum welche gesehen, aber ein hervorragender Beitrag fällt mir auch noch ein: Vilgot Sjömans Drama "491".

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Richie Pistilli
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Richie Pistilli »

Prisma hat geschrieben:
Mo., 09.11.2020 16:22
Schwedische Filme habe ich insgesamt kaum welche gesehen, aber ein hervorragender Beitrag fällt mir auch noch ein: Vilgot Sjömans Drama "491".
Von den paar schwedischen Filmen, die ich bisher sah, war '491' der beeindruckendste gewesen!

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Mater_Videorum
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Mater_Videorum »

Von den Arne Mattsson Filmchen, die ich bisher gesehen habe ist Der Schlafwagenmörder leider der schwächste Beitrag von, da kann auch die blonde Ewa nix retten. Kein Vergleich z.B. zur Gräfin mit der Peitsche oder dem Killer vom Stockholm, aber es freut dennoch, dass diese kleine Rarität endlich für's Heimkino verfügbar ist. Wäre schön, wenn aus der schwedischen Filmecke der damaligen Zeit noch mehr -und hochwertiger aufbereitet- kommen würde!

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Prisma
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Prisma »

Mater_Videorum hat geschrieben:
Mo., 09.11.2020 19:44
Von den Arne Mattsson Filmchen, die ich bisher gesehen habe ist Der Schlafwagenmörder leider der schwächste Beitrag von, da kann auch die blonde Ewa nix retten.

Da kann ich bislang noch keine Vergleiche ziehen, aber mit "Der Schlafwagenmörder" bin ich insgesamt schon sehr zufrieden gewesen, da zu derartigen Krimis bei mir ohnehin eine große Affinität besteht. So gesehen kann Ewa Strömberg vielleicht nicht alles retten - ist ja manchmal sogar bei Jess Franco so - aber sie hat mich in erster Linie schon einmal zu diesem Film bringen können denn so wähle ich in den meisten Fällen tatsächlich aus. Trotzdem muss ich mich wirklich ein bisschen mehr in der schwedischen Ecke umsehen; ich denke auch, dass da einige lohnenswerte Beiträge zu finden sind.

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Mater_Videorum
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Mater_Videorum »

Prisma hat geschrieben:
Di., 10.11.2020 13:29
So gesehen kann Ewa Strömberg vielleicht nicht alles retten - ist ja manchmal sogar bei Jess Franco so - aber sie hat mich in erster Linie schon einmal zu diesem Film bringen können denn so wähle ich in den meisten Fällen tatsächlich aus. Trotzdem muss ich mich wirklich ein bisschen mehr in der schwedischen Ecke umsehen; ich denke auch, dass da einige lohnenswerte Beiträge zu finden sind.
Ewa bereichert mit ihrer Präsenz normalerweise jeden Film, aber ich muss gestehen, dass sie beim Schlafwagenmörder doch ziemlich untergeht. Bin wie gesagt nicht ganz warm mit diesem Mattson-Beitrag geworden, vielleicht war die Erwartungshaltung dank vorheriger Sichtungen einiger seiner anderen Krimis auch etwas höher angesiedelt, aber gut – irgendwann geb ich diesem hier sicher nochmal eine Chance.

Und ja, die schwedischen Krimis längst vergangener Dekaden sind in der Tat sehr entdeckenswert, nur sieht es mit der Verfügbarkeit an vielen Stellen leider mau aus. Und ein Kracher wie Der Killer von Stockholm würde sich —trotz gebändigter Schmier— sehr gut in der Sleaze Selection von FFE machen!

Percy Lister
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Percy Lister »

"Der Schlafwagenmörder" (Original: Mördaren - en helt vanlig person) (Schweden 1967)
mit: Allan Edwall, Lars Ekborg, Karl-Arne Holmsten, Heinz Hopf, Britta Pettersson, Ewa Strömberg, Curt Masreliez, Elsa Prawitz, Björn Gustafson, Nils Hallberg, Julie Bernby, Karl-Arne Bergman, Tore Bengtsson, Frej Lindqvist, Christina Carlwind, Gunnar Stanzén, Olle Björling, Christina Sellgren, Erik Hell u.a. | Drehbuch: Maj Sjöwall und Per Wahlöö | Regie: Arne Mattson

Der Nord-Express bringt seine Passagiere auch in der Mittsommernacht ans Ziel, doch dieses Mal geschehen zwei Frauenmorde, von denen der erste unbemerkt bleibt. Als das zweite Opfer aus dem Zug gestoßen wird, zieht eine junge Frau, die das gleiche Coupé belegte wie die Ermordete, die Notbremse. Der erzwungene Halt beschädigt das Bremssystem und der Zug muss für vier Stunden eine Pause einlegen, in der die Passagiere in einer nahegelegenen Bahnstation auf die Polizei warten, die den vermeintlichen Unfall untersuchen will. Kurz vor der Tat wurde der Mörder auf dem Gang gesehen, er trug schwarze Handschuhe und einen schwarzen Regenmantel aus Lackleder....

Große Dramen spielen sich in den Zügen auf der Leinwand ab; der Geschwindigkeitsrausch befördert seine Passagiere ins Verderben und manchmal sogar in den Tod, während die Lokomotive davon unbeeindruckt weiterhin kraftvoll ihre Waggons zieht. Kommt die Fahrt zu einem abrupten Stillstand, so bedeutet dies fast immer die Konsequenz einer Katastrophe. Der schwedische Regisseur Arne Mattson ist dem deutschen Publikum vor allem wegen seines rührseligen Liebesdramas "Sie tanzte nur einen Sommer" (1951) mit Ulla Jacobsson bekannt. Hier erhält er Gelegenheit, einen Kriminalfilm zu inszenieren, der seine Vielschichtigkeit hinter einer konventionellen Fassade tarnt. Nach dem fulminanten Auftakt sinkt der Spannungspegel wieder auf ein Normalmaß zurück, so, als wäre der Mord nur in der Phantasie des Zuschauers geschehen, dessen Wunsch nach Sensationen mit dem Ruhebedürfnis der Reisenden kontrastiert. Im Zug herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, Unruhe und Nervosität treiben die Passagiere an und spiegeln sich auch in der Konservation im Salonwagen wider, wo sich jene versammeln, die allein reisen oder ein Publikum suchen. Selbstdarsteller finden ihre Bühne und ein Querschnitt aus der Gesellschaft präsentiert sich in kontroversen Bemerkungen und klischeetypischen Reaktionen. Der Rittmeister prolongiert sein militärisches Engagement und versucht die Kontrolle an sich zu reißen, indem er die Vorzüge der Armee mit den Mängeln im Eisenbahnbetrieb konfrontiert. Eine Opernsängerin lässt sich nur schwer aus der Reserve locken, weil sie ihr neugieriger Gesprächspartner auf ein volkstümliches Niveau reduzieren möchte. Ein junges Paar vergisst alles um sich herum und nistet sich in einem leeren Abteil ein. Die Krankenschwester lebt resoluten Pragmatismus vor. Der Sohn aus reichem Haus treibt die Nervosität seiner Mitreisenden mit ironischen und sarkastischen Spitzen in die Höhe. Der Direktor im öffentlichen Dienst sucht ein Ventil, um seinen angestauten Frust loszuwerden. Selbst der Schaffner scheint neben seiner Dienstauffassung auch andere Beweggründe mit an Bord des Zuges gebracht zu haben. Über allem liegt eine gereizte, angespannte Atmosphäre der Beklemmung. Die engen Abteile, der schmale Gang und die gegenseitigen Behinderungen durch ruheloses Verhalten, erhöhen die latent vorhandene Platzangst einiger Passagiere und bereiten den Boden für die kommenden Ereignisse, welche die Charaktereigenschaften der Personen gnadenlos entlarven und emotional alle Schleusen öffnen werden.

Der Schauplatz Eisenbahn bietet einen Mikrokosmos erster Güteklasse. Lange Flure führen ins Nirgendwo und dienen nur dem Flanieren entlang fremder Kabinen, in denen sich zwischenmenschliche Banalitäten, aber auch Tragödien und Romanzen abspielen. Abteiltüren dienen als Barrieren, welche die Personen gegen die anderen abschotten, ihnen Grenzen aufzeigen oder im schlimmsten Fall zum Tatort werden. Die Klaustrophobie nährt sich aus den rudimentären Räumlichkeiten, die zweckmäßig und unpersönlich sind und nur der simplen Unterbringung, nicht aber dem gehobenen Aufenthalt dienen. Der Salonwagen fungiert als Versammlungsort, um über die Mitreisenden herzuziehen, sich von unliebsamen Passagieren abzusondern oder um ernsthafte Überlegungen anzustellen. Der Aufbruch zur einsamen Bahnstation ist wie eine Befreiung und die blank liegenden Nerven aller brechen sich in den - im Vergleich zu den spartanischen Schlafkabinen geradezu fürstlich geräumigen - Aufenthaltsräumen endlich ihre Bahn. Der pedantische Stationsvorstand ("Ein Beamter muss nicht höflich, sondern ordentlich sein.") sorgt mit seinem Egoismus für eine Reinigung der Atmosphäre, in der ausgeübte Befehlsgewalt, eine deutliche Hierarchie und die Geringschätzung anderer - inklusive der Polizei - bereits für eine Vergiftung des Ambientes sorgten. Der Kriminalinspektor transportiert routinierte Souveränität und Gelassenheit. Situationen wie die vorliegende können ihn nicht aus seinem Konzept bringen, das auf jahrelanger Berufserfahrung und Menschenkenntnis fußt. Die Regie schafft es hier, die Spannung neu anzuheizen, nachdem die Handlung in den engen Zuggarnituren an ihre buchstäblichen Grenzen gelangt war. Psychogramme unterschiedlicher Couleur festigen die Individualität der Figuren, wobei einige besonders ins Auge fallen, so z.B. Allan Edwall, Heinz Hopf, Ewa Strömberg und Lars Ekborg. Reue macht sich stellenweise breit, sogar ein grotesker Moment der Nekrophilie wird heraufbeschworen und emotionale Extreme umfassen die Gruppe der Reisenden mit variierender Intensität. Gregor Hult sieht sich nach seinen ausschließlich sarkastischen Kommentaren bemüßigt, ein Geständnis abzulegen, das gleichzeitig eine Lebensbeichte darstellt; Pia verharrt in stummer Verachtung, die jederzeit in explosiven Hass umschlagen kann und der Direktor will mit ein paar Scheinen hastig reinen Tisch machen. Selbst der Rittmeister erkennt, dass seine Ordnung zerschlagen wird, weil er glaubt, seinen treuen Verbündeten Grälle durch Eigennutz verloren zu haben. "Der Schlafwagenmörder" verfügt über eine dichte Atmosphäre, die der klassischen Kriminalhandlung intime Nuancen verleiht und sich in feinen Personenporträts ausdrückt, was die Frage nach dem "Who's done it?" zu einem psychologischen Rätsel macht, dessen Lösung den Film zu einem anspruchsvollen und anregenden Geheimtipp macht.

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Sid Vicious
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Sid Vicious »

Folgend Screenshots der deutschen DVD von Shamrock Media / Cargo Records.
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Ich benötigte ca. 30 Minuten, um in den Film rein zu kommen. Anschließend hatte ich einen Bezug zu den Figuren aufgebaut und konnte recht erfolgreich an dem anstehenden Amalgam aus kollektiven Schuldgefühlen wie kollektiven Schuldzuweisungen teilnehmen. Für 7 von 10 Punkten reicht es auf jeden Fall.

PS: Einer der Darsteller (spielt den als Psychopath verschrienen Mats) erinnert mich optisch an Jean Luis Trintignant.
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Prisma
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Prisma »

Sid Vicious hat geschrieben:
Mo., 28.12.2020 00:20
Ich benötigte ca. 30 Minuten, um in den Film rein zu kommen. Anschließend hatte ich einen Bezug zu den Figuren aufgebaut und konnte recht erfolgreich an dem anstehenden Amalgam aus kollektiven Schuldgefühlen wie kollektiven Schuldzuweisungen teilnehmen.

Ich erinnere mich, dass ich bei der ersten Sichtung unmittelbar im Geschehen integriert war, zumal ich den Film wirklich mit großer Spannung erwartet hatte, der mich mit seinen Krimi-Elementen, dem Setting und dem Lockvogel Ewa Strömberg natürlich sofort angesprochen hat. Dass sich noch eine psychologische Schraubzwinge und eine eigentümliche Spannung aufbauen konnte, hätte ich in der Form erst gar nicht erwartet.

Mich hat "Der Schlafwagenmörder" sogar wesentlich mehr ansprechen können als ein ausgewiesener Klassiker wie "Mord im Orient-Express", wenn ich mal so weit ausholen darf. So bleibt die Gewissheit, dass man in einem solchen Zug wirklich nicht gerne sitzen möchte. :D

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Sid Vicious
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Sid Vicious »

Ich vermute, dass so ziemlich jede/r seine Linien in Richtung "Mord im Orient-Express" ziehen wird, dass bringt die Seherfahrungen automatisch mit sich.

Der Film ist mittlerweile gesickert und noch besser als unmittelbar nach der Sichtung angekommen. Wohl (trotz der unangenehmen Reisegesellschaft) die angenehmste Sichtungsüberraschung des Monats Dezember. Klasse!
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Percy Lister
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Percy Lister »

Vielen Dank für die aussagekräftigen Screenshots der deutschen DVD-Veröffentlichung, Sid! Interessanterweise habe ich den Film vor zwei Jahren auch im Dezember gesehen. Die Atmosphäre erinnert latent an die deutsche Produktion "Der Geisterzug" (1957) von Arnold Ridley. Die Protagonisten sorgen jeweils durch Feindseligkeiten für eine aufgeladene Spannung, während um sie herum eine Katastrophe greifbar wird.

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Prisma
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Re: DER SCHLAFWAGENMÖRDER - Arne Mattsson

Beitrag von Prisma »



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● EWA STRÖMBERG als PIA in
DER SCHLAFWAGENMÖRDER (S|1967)



»Los! Probier mal mein Geschenk an...« Wenig liebevoll bekommt die attraktive Passagierin ein Paket auf den Schoß geworfen, in dem sich entsprechende Textilien befinden, die einem bestimmten Metier zugeordnet werden und die den edlen Spender in Wallung versetzen sollen, der bereits ungeduldig wartet. Da er sich ganz offensichtlich zur besseren Gesellschaft zählt und bereit ist, für besondere Dienste und Diskretion tief in die Tasche zu greifen, hat sich die skeptisch drein blickende Blondine seinen exklusiven Wünschen zu beugen. Ewa Strömberg verkörpert in Arne Mattssons sehenswertem Beitrag quasi ihren eigenen Prototypen und wird für eine Art Geschäft herhalten, dass sich vielleicht gut mit Prostitution im Fahrplan inbegriffen charakterisieren lassen könnte, wenn da nicht eine plötzlich auftauchende rote Linie wäre, die schon nach wenigen Einstellungen zum Vorschein kommt. Nach anfänglichem aber lediglich vorgespieltem Interesse, das mit eindeutigen und verführerischen Blicken untermalt war, fängt Pia an, sich gegen die Extrawünsche ihres Freiers zu sträuben und wehrt sich gegen die Schläge und den immer mehr Gestalt annehmenden Fetisch dieses Herrn, der später noch um Vertuschung bemüht sein wird. Immerhin handle es sich bei ihm um eine Person des öffentlichen Dienstes, was wohl so viel heißt, wie eine Person des öffentlichen Interesses. Zumindest falls es zu einem handfesten Skandal käme. Ewa Strömberg überrascht in all ihren Szenen mit einem Temperament, das andernorts nicht immer zur Debatte stand und dementsprechend nicht oft abgerufen werden musste. Die frühe Karriere der Schwedin spielte sich ausschließlich in ihrem Heimatland ab und "Der Schlafwagenmörder" markiert bereits das Ende dieser Phase ihrer eigentlich kurzen Karriere, da sich ihr Schaffen anschließend in die Bundesrepublik verlagern sollte.

Wie so häufig ist Ewa Strömberg auch hier nackt zu sehen und präsentiert einen gerne in Anspruch genommenen Erotik-Faktor, der wie eine Weichenstellung für die zukünftige Karriere wirkt. Ihrem Freier und Peiniger soll sie sich willenlos beugen; schließlich will er dafür die Scheine auf den Bordtisch legen, auch wenn es erst in einer viel späteren Situation dazu kommt. Pia soll sich in Lack und Leder kleiden, was als eine nette Anspielung zum umher geisternden Mörder wahrzunehmen ist, immerhin trägt dieser ebenfalls einen schwarzen Lackmantel. Pia verliert allerdings die Nerven und während der Fahrt kommt es zu einer peinlichen Szene, die mehrere Fahrgäste aufhorchen lässt. »Ich lass mich doch nicht totschlagen von diesem gemeinen Sadisten!« Eindeutiger kann sie ihren Ex-Begleiter nicht an den Pranger stellen, doch der Schaffner ist darum bemüht, die erforderliche Ruhe im Schlafwagen wieder herzustellen und weist der aufgebrachten Frau einen außerplanmäßigen Sitz im Salonwagen zu. Fortan wird man Ewa Strömberg nur noch mit finsterer Miene, irritiert und tief gekränkt wahrnehmen, doch es kann zunächst nicht genau benannt werden, ob es sich um gekränkte Eitelkeit und den Ärger über ein Verlustgeschäft handelt, oder um einen Hauch von erfahrenem Trauma. Auch im weiteren Verlauf werden sich diese Fragen nicht klären, zumal man ihren Kunden im Kreis der Verdächtigen beibehalten will. Ewa Strömberg bleibt für die weitere Fahrt nur noch ein schönes Gesicht für die Totale, bis sie gegen Ende noch ein paar wirksame Szenen zum Besten zu geben hat. Im Gros handelt es sich um einen sehr gut strukturierten und im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten intensiv gespielten Auftritt der gerne gesehenen Schwedin, der hier zwar etwas größer ausgefallen ist, als in vielen ihrer deutschen Filme, sie im Rahmen der Produktion jedoch nicht zu den Haupt-Akteuren zählt, die hier andere Namen tragen.



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