DAS ALTE GEWEHR - Robert Enrico

Türkploitation, isländische Kannibalenfilme und alles andere aus Europa
Antworten
Benutzeravatar
Prisma
Beiträge: 3768
Registriert: Sa., 31.10.2020 18:11

DAS ALTE GEWEHR - Robert Enrico

Beitrag von Prisma »



DAS ALTE GEWEHR


● LE VIEUX FUSIL / DAS ALTE GEWEHR / ABSCHIED IN DER NACHT (F|D|1975)
mit Philippe Noiret, Romy Schneider, Jean Bouise, Robert Hoffmann, Karl-Michael Vogler, Madeleine Ozeray, Catherine Delaporte und Joachim Hansen
ein Produktion der Mercure Productions | Les Productions Artistes Associés | T.I.T Filmproduktion | im Verleih der Cinerama Filmgesellschaft
ein Film von Robert Enrico

Gewehr (1).jpg
Gewehr (2).jpg
Gewehr (3).jpg
Gewehr (4).jpg
Gewehr (5).jpg
Gewehr (6).jpg
Gewehr (7).jpg
Gewehr (8).jpg
Gewehr (9).jpg

»Ich kümmere mich nicht um Politik!«


Frankreich, im Jahr 1944. Julien Dandieu (Philippe Noiret) ist Chirurg in einer Klinik. Er behandelt alle Kranken gleich, egal welche politischen Gesinnungen sie haben. Es herrscht eine nervöse Spannung, denn die Division »Das Reich« befindet sich kurz vor dem Einmarsch in die Normandie. Nach einer Durchsuchung des Krankenhauses nach politischen Gegnern durch die Miliz, beschließt Julien, seine Frau Clara (Romy Schneider) und die gemeinsame Tochter Florence (Catherine Delaporte) in Sicherheit zu bringen, indem er sie in das abgelegene Schloss Barberie schickt. Nach einigen Tagen der Unruhe fährt Julien seiner Familie nach und muss eine grausame Entdeckung machen. Alle Einwohner des kleinen Dorfes, das rund um das Schloss liegt, wurden ermordet. Von Angst getrieben, sucht er nach seiner Familie in dem vermeintlich sicheren Versteck, und er findet schließlich nur noch die Leiche seiner jungen Tochter und den verkohlten Körper seiner Frau. Wahnsinnig vor Schmerz und erfüllt von Hass beschließt Julien, die Verantwortlichen systematisch zur Verantwortung zu ziehen. Vollstrecker seiner Rache soll das alte Gewehr seines Großvaters werden...

Roberto Enricos viel beachtetes Drama zählt zu den ganz großen Beiträgen des französischen Kinos, der heute leider ein bisschen in Vergessenheit geraten ist. Die Zeitung "Paris Match" schrieb im Produktionsjahr 1975: »Roberto Enrico gelangen außergewöhnlich gefühlvolle Bilder«. Der Filmstoff bedient sich historischer Anleihen des SS-Massakers in Oradour, bei dem seinerzeit 642 Menschen starben. "Le vieux fusil" kam in der Bundesrepublik Deutschland zunächst als "Das alte Gewehr" und schließlich unter dem weniger aussagekräftigen Titel "Abschied in der Nacht" in die Kinos, der ein wenig in die Irre leitet, beziehungsweise keine besondere Neugierde erwecken möchte. In Frankreich avancierte die Produktion zum sensationellen Erfolg und brach zahlreiche Rekorde, denn der Film lief beachtliche sechs Monate in Uraufführung in Paris und brachte es in diesem Zeitraum auf beinahe 775.000 Besucher, hatte somit sogar größeren Erfolg als seinerzeit die "Sissi"-Filme, die ja immer wieder als Referenz herangezogen wurden oder werden. Der Film wird 1976 außerdem mit der Auszeichnung des César, dem französischen Oscar, als bester Film des Jahres gekrönt. Weitere Auszeichnungen gingen an Hauptdarsteller Philippe Noiret und die sehr bewusst abgestimmte Filmmusik von François de Roubaix. Zudem war der Film in sechs weiteren Kategorien nominiert. Insgesamt hat man es mit einem Thema zu tun, das an den Nerven zerrt, emotional abverlangt, bis zum Äußersten geht und der in seiner hoch professionellen Inszenierung überaus verstörend wirkt. Wenn man so will, bahnt die Regie eine Annäherung in Form des Aufzeigens eines der zahllosen und unerträglichen Gesichter des Krieges an.

Philippe Noiret, der in der deutschen Fassung übrigens von Harald Leipnitz synchronisiert wurde, spielt bemerkenswert auf. Julien strahlt eine Ruhe und Besonnenheit aus, die anscheinend durch nichts zu erschüttern ist. Man nimmt ihn ambitioniert in seinem Beruf wahr, wenn auch übergreifend machtlos, glücklich und liebevoll als Familienvater, der seine Frau und seine Tochter vergöttert. Unter anderen Umständen hätte Julien alles, was er sich erträumt hat, doch die erdrückenden Rahmenbedingungen zeigen ihn besorgt; nur der Zuschauer bekommt seine intime, leise Angst zu spüren, bis sein Gesicht wenig später zum Spiegel der Emotionen des Zuschauers wird. Dass Julien zum Mörder wird, erscheint dabei wie eine logische Konsequenz, denn sein systematisches und gnadenloses Vorgehen zeigt exemplarisch auf, dass ein derartiges Handeln fernab seiner Natur und seines Verstandes abläuft, doch man verfolgt seine Vorgehensweise beinahe mit Genugtuung. Philippe Noiret kreierte einen tragischen Helden, der Schmerz, Verzweiflung und Qual so greifbar macht. Mit mehr Tiefe hätte man diese Rolle nicht ausstatten können und es entstand eine der ganz großen Interpretationen des französischen Kinos. Joachim Hansen als hoher SS-Offizier wirkt in dieser Geschichte sehr glaubhaft. Man sieht ihm an, dass er innerlich längst kapituliert hat, doch für ihn muss es bis zum bitteren Ende weitergehen. Trotz unterschiedlicher Auffassung trägt er die Machenschaften seiner Truppe mit und lässt sie an der langen Leine, um sie bei der Stange zu halten. Robert Hoffmann bekommt leider nur wenig Gelegenheit, sich aus dem Schatten mancher Kollegen hervorzuheben und bleibt unscheinbar zurück. Erwähnenswert ist schließlich noch die subtile Leistung von Jean Bouise, der einen engen Freund Juliens spielt.

Für ihre Leistung in "Nachtblende" und "Das alte Gewehr", der hier allerdings zugunsten von "Nachtblende" nicht in der Kategorie beste Schauspielerin nominiert wurde, erhielt Romy Schneider den César, den sie Luchino Visconti widmete, der kurz vor der Verleihung verstarb. Die Prämie spendete sie im Angedenken an ihren Mentor einer Künstlerhilfe. "Das alte Gewehr" gilt damals wie heute als einer der tiefgründigsten und leidenschaftlichsten Filme mit Romy Schneider. Ihre Darstellung der Clara, die hauptsächlich in Rückblenden angelegt ist, kann als eine der intensivsten und emotionalsten Frauenrollen ihrer Karriere bezeichnet werden. Vor allem über Romy Schneider setzt die Regie ungewöhnlich harte Schocks, die notwendig sind, um zum Verständnis bezüglich Juliens Handeln beizutragen. Der Zuschauer soll verstehen, warum ein Mann, der friedlicher nicht sein könnte, zu solch drastischen Mitteln greifen wird. Romy Schneider übernahm eine Rolle der weit voneinander entfernten Kontraste und damit eine Herausforderung an. Clara ist schön, liebenswert, unbekümmert und steht voll im Leben welches sie so sehr liebt, wie ihre Familie. Trotz der nahenden Gefahr nimmt sie den Krieg anscheinend nicht sehr ernst und vermittelt ein Gefühl von Unverwundbarkeit sowie diskreter Stärke. Nach diesen kurzen Einstellungen folgen die unfassbaren Bilder im Schloss, von ihrer Vergewaltigung und ihrer buchstäblichen Vernichtung durch einen Flammenwerfer. Hierbei wirkt die hochwertige Inszenierung alptraumhaft und macht sprachlos. Im Verlauf ist Schneider nur noch in Rückblenden zu sehen, die durch das absencenartige Schauspiel von Philippe Noiret eingeleitet werden. Es sind heitere Sequenzen aus glücklichen Tagen, die von Lebensfreude und Glücksmomenten berichten.

"Abschied in der Nacht" vermittelt überaus drastische Inhalte und Bilder, bleibt dabei aber ein fast stilles Plädoyer innerhalb eines Ausnahmezustandes zurück, der nie hysterische Zustände annehmen wird. Trotzdem nimmt er eine überaus deutliche Position ein und erschreckt mit einer unmissverständlichen und harten Wertung. Sein schnelles Erzähltempo lässt oftmals fast unerträgliche Spannungsmomente entstehen, die nur durch die Rückblenden entschärft werden können. Die technischen Finessen und sowie die präzise Bildgestaltung hinterlassen ein rundes Gesamtbild. Besonders eindrucksvoll ist das Schloss mit seinen geheimen Gängen und versteckten Winkeln, die Julien schon aus seiner Kindheit her kannte. Einen der größten Paukenschläge bekommt man in Form eines Beobachtungsspiegels in einem der Räume zu Gesicht, durch welchen Julien alles mit ansehen kann und dadurch seinen Gegnern in diesem nervenaufreibenden Katz- und Maus-Spiel immer einen Schritt voraus sein kann. Die verständlicherweise mit dem César ausgezeichnete Musik transportiert extreme Stimmungen und Spannungsmomente, die in jeder Situation maßgeschneidert wirken. Die Regie bedient sich einiger brutaler Veranschaulichungen, die allerdings notwendig waren um diesen Ausnahmezustand zu schildern. "Das alte Gewehr" ist berührend, ohne aber rührselig zu werden, er zeigt sich wertend, ohne jedoch eindimensional zu erscheinen. Insgesamt präsentiert sich ein gut reflektierter Film, der Superlative naheliegend erscheinen lässt. Vermutlich charakterisiert Roberto Enrico diesen Film mit seiner eigenen Aussage am besten: »Ich wollte zeigen, wie ein einmal in Gang gesetzter Mechanismus jeden mitreißt, auch den Sanftesten«. So bleibt ein beeindruckender, überragender Film und eine schwere Anklage gegen den Krieg.

Antworten