ES GESCHAH AM SEE - Lawrence Gordon Clark

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Percy Lister
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ES GESCHAH AM SEE - Lawrence Gordon Clark

Beitrag von Percy Lister »

"Es geschah am See" (A Pattern of Roses) (Großbritannien 1983)
mit: Stuart Mackenzie, Suzanna Hamilton, Jo Searby, Helena Bonham Carter, Kathryn Pogson, Vivian Pickles, Norman Rodway, Ralph Nossek, Richard Beale, Bill Wallis, Caroline John, David Gant, Roger Milner, Peter Schofield, Donald Bisset u.a. | Drehbuch: Joy Whitby nach dem Roman "A Pattern of Roses" von K. M. Peyton | Regie: Lawrence Gordon Clark

Tim Ingram, der Sohn eines erfolgreichen Werbefachmanns, soll sich nach einer fiebrigen Erkrankung in einem englischen Landhaus am See erholen, bevor er sein Studium in Oxford aufnimmt. Er findet in einer Schachtel ein Bündel alter Zeichnungen, die offenbar ein früherer Bewohner des Häuschens gemacht hat. Es handelt sich dabei um den sechzehnjährigen Tom Inskip, der im Frühjahr 1914 starb und Tim immer wieder in einer Vision erscheint. Zusammen mit der Tochter des Pfarrers, versucht er, herauszufinden, was damals geschah und welche Umstände zum Tod des begabten Zeichners führten. Rebecca und er stoßen dabei auf eine junge Frau namens Netty, die großen Einfluss auf Tom ausübte....

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Mit sparsamen Mitteln gelingt es Regisseur Lawrence Gordon Clark, eine unheimliche Spannung aufzubauen, die auf einem tragischen Todesfall in der Vergangenheit fußt und einen Jungen zum Rätselfaktor erhebt, der nicht nur die gleichen Initialen wie die männliche Hauptfigur trägt, sondern die selbe Begabung zum Zeichnen hat. Durch die subtile Anwesenheit des Jungen, der sich als landwirtschaftlicher Arbeiter verdingen musste, während Tim der Sohn eines vermögenden Unternehmers ist, werden Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart eines Sinnsuchenden mit seinem Alter Ego gezogen. Die stille Sympathie und das Verständnis, das Tim für den lange Verstorbenen entwickelt, lässt ihn eigene Entscheidungen reflektieren und sich gegen die Bevormundung seiner Eltern, die seinen Lebensweg wie an einem Reißbrett entwerfen wollen, auflehnen. Rebecca ist ebenso unangepasst wie Tim und drängt ihn, die Umstände, die zum Tod des Tom Inskip führten, aufzudecken. So entwickelt sich nach und nach eine fesselnde Suche nach der Wahrheit, die auch den Beteiligten hilft, mehr über die eigenen Bedürfnisse und Werte zu erfahren. Der Gegensatz zwischen den Vorstellungen der Erwachsenen und jenen ihrer Kinder wird mehrfach betont, weswegen diese eigene Wege gehen und Antworten auf Fragen nicht im Elternhaus suchen, sondern in der Spiegelung ihrer Welt mit jener ihrer verblichenen Vorgänger. Der Übergang zwischen den Rückblenden, welche Episoden aus dem Leben von Tom Inskip zeigen und dem Alltag von Tim Ingram, ist fließend und lässt die beiden jungen Männer in die selben Fußstapfen treten, was auf ein bedrohliches Szenario hindeutet und für Unruhe beim Zuschauer sorgt, der eine sich anbahnende Klimax sieht.

Großen Anteil an der Beunruhigung über das Schicksal des früh Verstorbenen, hat die enigmatisch und verschlagen wirkende Helena Bonham Carter, die hier in ihrer ersten Rolle zu sehen ist. Ihre Blicke erfassen den jungen Mann wie ein Stück Beute, das es zu erlegen gilt und zeigen, wie gefährlich ihre Gunst sein wird. Als Gast bei der Tochter des Pfarrers, genießt sie Privilegien und Schutz, wobei sie sich gegen letzteren auflehnt, weil sie Konventionen missachtet und ihre Neugier stärker ist als der Ehrgeiz, sich die Talente einer höheren Tochter anzueignen. Wie eine Spinne lauert sie zunächst im Hintergrund, um sich dem Objekt ihres Interesses langsam anzunähern und jede Möglichkeit zu ergreifen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Kathryn Pogson als ihre Cousine May bedauert den jungen Mann und unterstützt ihn bei seinen Bemühungen, sein Talent als Zeichner weiterzuentwickeln. Die Rivalität der beiden Frauen wird optisch immer wieder hervorgehoben, beispielsweise, als May ihren Kater begraben muss, der von Nettys Jagdhund getötet wurde. Im Schatten des Pfarrhauses gedeihen Neid, Missgunst und Verdruss, wobei es scheint, als wäre die ungesühnte Altlast aus der Vergangenheit Schuld an dem vergifteten Klima, das nach wie vor über der kleinen Gemeinde liegt. Die Enge, welche im häuslichen Rahmen vermittelt wird, findet ihre Entsprechung in den Honoratioren aus vergangenen Tagen, die sich immer wieder in Tims Wahrnehmung einschleichen. Je mehr er sich mit den Umständen von Toms Tod beschäftigt, die wie eine Zwiebel langsam entblättert werden, desto tiefer dringt er selbst in die Gefahrenzone ein. Die Frage, ob er sich dem Todesgriff des Schicksals entwinden kann, belebt das letzte Drittel des Films.

Stuart Mackenzie und Jo Searby verbindet eine Wesensverwandtschaft, welche die Zeiten durchdringt und Themen spiegelt, die nach wie vor aktuell sind: Freundschaft, Vertrauen, Liebe und Engagement. Ihre Charaktere haben auf den ersten Blick wenig gemein, weil allein die soziale Stellung Anteil am Unglück hat, das dem landwirtschaftlichen Arbeiter widerfährt. Dennoch haben sie den selben Wunsch, aus der vorgefertigten Struktur ihres Lebens ausbrechen zu können und erliegen der Faszination eines lebhaften Mädchens, das sie ermutigt und zum Handeln anregt. Suzanna Hamilton ist ebenso ungehalten wie Helena Bonham Carter, wenn sie merkt, dass ihr Gegenüber dem Müßiggang erliegt oder den Dingen mut- und kraftlos ihren Lauf lässt. Während den männlichen Protagonisten die Rolle des Träumers zukommt, der Gefahr läuft, vom unbarmherzigen Sog der Wirklichkeit mitgerissen zu werden, stoßen die weiblichen Figuren Aktionen an und bestehen auf einer Weiterentwicklung der Dinge. Die fragile, impressionistisch wirkende Kulisse im ländlichen Essex dient als Rahmen einer Geschichte, die eine glaubhafte Brücke zwischen der Lebensrealität eines Heranwachsenden Anfang des 20. Jahrhunderts und eines angehenden Studenten Mitte der Achtziger Jahre spannt. Der Zuschauer erhält ein Sittengemälde aus der Zeit kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs ebenso, wie eine Momentaufnahme aus den groovigen Achtziger Jahren, die auf dem Land noch in den Kinderschuhen stecken, was "We can work it out" von "The Beatles" auf der Weihnachtsparty der Dorfjugend unterstreicht. Die eigentümliche Atmosphäre umfasst das Publikum wie von Geisterhand und entführt es in eine spannende Geschichte, wie sie das Leben schreibt.

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