CEMETERY JUNCTION - Ricky Gervais & Stephen Merchant

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Maulwurf
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CEMETERY JUNCTION - Ricky Gervais & Stephen Merchant

Beitrag von Maulwurf »

Cemetery Junction
Cemetery Junction
Großbritannien 2010
Regie: Ricky Gervais & Stephen Merchant
Christian Cooke, Felicity Jones, Tom Hughes, Jack Doolan, Emily Watson, Ricky Gervais, Matthew Goode, Ralph Fiennes, Steve Speirs, Jessica Jones, Madeleine Dunbar, Andrew Brooke


Cemetery Junction.jpg

https://ssl.ofdb.de/film/193451,Cemetery-Junction

Das Problem, seinen Weg zu finden. Das Verhältnis zu den Eltern und der Umwelt in der Waage zu halten. Etwas anders machen zu wollen als die Eltern, besser und erfolgreicher. Was auch immer, aber ETWAS. Nicht in der Fabrik enden, aber auch nicht als saufende Memme vor dem Fernseher versauern wollen. Tagaus tagein in der Fabrik stehen? Nein. Aber im Hamsterrad Versicherungen verkaufen an Menschen, die mit den paar Pennies pro Woche ihre Träume begraben müssen, damit der Bezirksleiter einen Rolls Royce fahren kann? Nein, auch nicht. Jeden Samstag saufen und prügeln? Dumme Jungenstreiche machen und dafür eingeknastet werden? Sicher auch nicht. Aber was denn dann?

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"Hör auf, diese Schwuchtelmusik zu hören. Leg lieber was von Elton John auf!"

Erwachsenwerden war wahrscheinlich noch nie leicht, und Filme über dieses Thema gibt es zuhauf. In CEMETERY JUNCTION begleiten wir Bruce, Freddie und Snork ein kleines Stück des Weges. Bruce ist großsprecherisch, rebellisch und unangepasst. Die Nächte verbringt er gerne mal auf der Polizeistation, seinen Vater hasst er, und sein Leben besteht aus vögeln, saufen und prügeln. Ein paar Jahre später (der Film spielt 1973) wäre er ein Punker geworden und würde mit dem größtem Vergnügen gegen den gesamten Ort ankämpfen, hier träumt er „nur“ vom Fortgehen. Aber tatsächlich fortgehen ist nicht so einfach wie man es sagt …
Freddie träumt von einem bürgerlichen Leben. Mit Anzug und Krawatte will er im Versicherungsgeschäft Geld verdienen, so wie der mächtig beeindruckende Mr. Kendrick, der ebenfalls aus dem miesen Dreckskaff Cemetery Junction kommt, und jetzt in einer Villa lebt und eben einen Rolls Royce fährt. Freddie will ihm nacheifern, aber durch Kendricks‘ Tochter Julie, seine Jugendliebe, bekommt er mehr Einblicke in dieses Leben als ihm lieb ist. Und Freddie ist nicht dumm – seine Erlebnisse auf dem Winner’s Ball, einer Veranstaltung der Versicherung, zusammen mit dem leichten Freiheitsdrang Julies … Aber tatsächlich fortgehen ist halt nicht so einfach wie man es sagt …
Snork heißt eigentlich Paul, wird aber Snork genannt, weil er einen Riecher für Mösen hat. Sagt er. Snork ist klein, dick und unansehnlich. Er hat eine große Brille auf damit er aussieht wie Elton John, aber eigentlich sieht er damit aus wie eine Witzfigur aus einer Komikserie. Und auch Snork, der bei der Britischen Eisenbahn angefangen hat zu arbeiten, möchte ein wenig mehr vom Leben bekommen als nur die samstäglichen Prügeleien und die darauffolgenden Aufenthalte im örtlichen Knast. Snork hat sich ein Tattoo nach seinem eigenen Entwurf auf die Brust stechen lassen! Eine nackte Vampirin die aus dem Fenster schaut. Und auf dem Rücken ist die Vampirin von hinten zu sehen, und Snork ebenfalls. Nackt, in Socken, mit einem Steifen …

Erwachsenwerden war wahrscheinlich noch nie leicht, und Filme über dieses Thema gibt es zuhauf. Mal als derbe Klamotte, mal als zarte Komödie. Als ernsthaftes Drama, und dann wieder als düstere Studie eines Untergangs. CEMETERY JUNCTON steht dazwischen, ich wüsste im Moment nicht einmal, in welche Gattung ich den Film stecken sollte, wenn ich es denn müsste. Für ein Drama ist er zu leicht, für eine Komödie zu ernst. Über den meisten Szenen schwebt diese unglaublich intensive Melancholie, die oft mit einem leichten Augenzwinkern verbandelt ist: Der ausgesprochen ekelhafte Wirt vom Bahnhofscafé, der nur und ausschließlich ans Vögeln denkt („Du brauchst eine Versicherungspolice.“ „Ich brauche Porno!!“). Eigentliche eine traurige und abstoßende Gestalt, aber als Filmfigur so liebevoll zum Leben gebracht, und eigentlich dann doch irgendwo wieder ganz nett. Oder Freddies garstige Oma, mit der der Vater streitet, welches Wort widerwärtiger ist: Scheiße oder Katzenarsch. Katzenarschlöcher sind schlimmer als Scheiße. Das ist sowas von eklig …
Und natürlich der Winners’Ball, die Veranstaltung der Versicherung, auf der die neuen Mitarbeiter begrüßt, die alten verabschiedet, und die erfolgreichsten Verkäufer geehrt werden. Die zentrale Szene des Films, und da bleibt einem das Lächeln schon bitter im Halse stecken: Die Verabschiedung des alten Verkäufers durch den Bezirksleiter, der nach 43 Dienstjahren (42 Jahren, Sir) eine gläserne Obstschüssel bekommt. Eine teure, weil die billige gerade nicht vorrätig war, ha ha ha …

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Und obwohl das Ende leider recht ein wenig zu sehr, aber doch auch irgendwie passend, in Richtung Kitsch tendiert, und obwohl in CEMETRY JUNCTION eigentlich(!) gar nicht viel Aufregendes passiert, trotzdem erwachen die Figuren durch die erstklassigen Schauspieler zum Leben und machen das alles so … realistisch. Lebensecht. Ein anderes Wort fällt mir tatsächlich grade nicht ein. Jede dieser Figuren meint man selber zu kennen, oder man könnte sie im wahren Leben jederzeit treffen. Und wenn man sich darauf einlässt, dann steckt in CEMETRY JUNCTION genauso viel drin, wie im richtigen Leben auch. Und genauso, wie es auch dort die einen Menschen gibt die immer nur jammern dass nichts los sei, und die anderen, die aus der verfügbaren Zeit das Optimale rausholen (und die vielen anderen dazwischen selbstverständlich ebenfalls), genauso steckt in dem Film sehr viel mehr drin als nur das tausendste Coming-of-Age-Drama. Keine Anleitung zum gelungenen Ausbruch aus einer verhassten Kleinstadthölle, sondern eher ein Denkanstoß zum Genießen des Lebens.

7/10

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