DER GROSSE EISENBAHNRAUB 1963 - Julian Jarrold / James Strong

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Percy Lister
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DER GROSSE EISENBAHNRAUB 1963 - Julian Jarrold / James Strong

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"Der große Eisenbahnraub 1963" (The Great Train Robbery) (Großbritannien 2013)
mit: Luke Wilson, Jack Roth, Martin Compston, Paul Anderson, Neil Maskell, Nigel Collins, Bethany Muir, Robert Glanister, George Ward, Del Synnott, Stuart Graham, Nicholas Murchie, Jordan Long, Jack Gordon u.a. | Drehbuch: Chris Chibnall und Rob Ryan nach der Buchvorlage "Red Signal" von Rob Ryan | Regie: Julian Jarrold

Eine Gruppe entschlossener Männer plant nach einem Insider-Tipp den Überfall auf den Postzug Ihrer Majestät der Königin und erbeutet dabei die unvorstellbare Summe von 2.631.784 Pfund Sterling - in heutiger Währung 41 Millionen Pfund. Bruce Richard Reynolds ist der Kopf der Bande, ein kühler Denker, der schon lange von einem Verbrechen nach Maß träumt; einer stilvollen Initiative, die ihm Ruhm und Unabhängigkeit beschert. Wird es gelingen, der Polizeifahndung zu entwischen und sich der Verfolgung der Gerichte zu entziehen?

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Nachdem sich die Kollegen vom deutschen Fernsehen rasch auf den Sensationsraub stürzten und drei Jahre später bereits eine aufwendige Verfilmung des Falles auf den Bildschirm brachten, nutzte die englische BBC das 50-Jahre-Eisenbahnraub-Jubiläum, um eine Hommage an die Gentlemen-Gangster zu inszenieren. In der Hauptrolle sehen wir mit Luke Evans einen Mann, der uneingeschränkte Autorität verkörpert, sich durch straffe Führung auszeichnet und in der schwierigen Aufgabe eine Herausforderung sieht, die er für sein Selbstverständnis braucht. Er überwindet Widerstände, hat Freude am Wettkampf mit Polizei und Öffentlichkeit und achtet auf eine exzellente Vorbereitung des Unternehmens. Als er fürchten muss, die Kontrolle über das Vorhaben zu verlieren, kriecht die kalte Angst in ihm empor, was einer der erschreckendsten Momente des Films ist. Das Auseinanderbrechen des Teams ist weniger schmerzlich als eine Schwächung des Leaders. An ihm hängt alles, seine Ziele sind jene des Zuschauers, sein Erfolg ist auch der seines Publikums. In seiner Planung gibt es keinen Leerlauf, jede Aktion ist präzise durchdacht und beeindruckt auch jene, die selbst weniger diszipliniert agieren. Der zweite Mann neben Bruce Reynolds ist Jack Roth als Charlie Wilson. Der schmächtige Mann mit dem forschen Blick bildet den Gegenpol zum einsamen Denker und erweist sich als geradeheraus und weniger vornehm im Gebaren. Seine Bodenständigkeit und klugen Einwände machen ihn greifbarer als den unnahbaren Reynolds, was ihm die Sympathie von Teilen des Publikums sichert. Er sorgt dafür, dass der elitäre Anführer nicht die Haftung verliert und alternative Möglichkeiten in Betracht zieht.

Der Ablauf der Handlung spiegelt britische Coolness wider und wird dementsprechend leichtfüßig in Szene gesetzt. Die Anfangssequenz mit dem Überfall auf die Geldboten der BOAC ist das beste Beispiel für die unverhohlene Bewunderung, die Kameraarbeit und Musikuntermalung den eleganten Ganoven zuteil werden lassen. Die clevere Durchführung des Unternehmens scheint den Erfolg geradezu zu rechtfertigen und das Anrecht der Räuber auf die Millionen abzusegnen. Die kühne Tatkraft der Männer überstrahlt die Routine der staatlichen Rechtschaffenheit von Post und Polizei und bestätigt den geheimen Wunsch der breiten Masse gegen das Establishment aufzubegehren. Psychologisch raffiniert gesteht Regisseur Jarrold seinen Gentlemen gerade so viel Härte zu, wie nötig ist, um ahnungslose Exekutive des Systems in Schach zu halten. Brutalität oder Exzesse würden die Stimmung der Beobachter ins Negative kippen lassen, was auch Bruce Reynolds in Hinblick auf ein eventuelles Gerichtsverfahren in Erwägung zieht. Die Eisenbahn als Transportmittel des Kapitals erweist sich als sportliche Herausforderung, der sich die Männer stellen und nähert sich ihrem unplanmäßigen Halt bedrohlich und einschüchternd. Die schlichte Abgeschiedenheit des Verstecks auf der Farm unterstreicht die Isolation, in die sich die Gruppe begeben hat und markiert ein Leben im Untergrund, das sich nun auftut. Nach den technischen Feinheiten müssen sich die Männer nun den psychologischen stellen, womit sie weitaus schwieriger zurecht kommen. Nicht jedes Mitglied der Bande sieht in dem Abenteuer die intellektuelle Herausforderung; manch einer benötigt schlicht und einfach das Geld. Und die Jagd auf die Leute hinter dem Mastermind läuft gerade erst an.

Teil 1 erzählt die Geschichte aus der Sichtweise der Räuber, zeigt ihre anfänglichen Zweifel und die Entschlossenheit ihres Kopfes Bruce Reynolds. Sobald ihre Pläne Fahrt aufnehmen, rollt die Handlung zuverlässig wie ein Uhrwerk ab und macht das Publikum zum Komplizen des Raubes. Authentische Schauplätze und ein stimmiges Ambiente stützen die dominante Darstellung von Luke Evans, der sein Ensemble ebenso überzeugt wie den Zuschauer.

Percy Lister
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Re: DER GROSSE EISENBAHNRAUB 1963 - Julian Jarrold / James Strong

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"Der große Eisenbahnraub 1963" (The Great Train Robbery) (Großbritannien 2013)
mit: Jim Broadbent, Robert Glenister, James Fox, George Costigan, Richard Hope, Bradley Snelling, Alexa Morden, Tim Pigott-Smith, Tom Chambers, Nick Moran, James Wilby, James McGregor, Eric Hulme u.a. | Drehbuch: Chris Chibnall und Rob Ryan nach "Red Signal" von Rob Ryan | Regie: James Strong

Nach dem Postraub stehen Chefermittler DCS Tommy Butler und sein Team unter dem Druck, schnelle Ergebnisse liefern zu müssen. Der Innenminister erwartet sich im Namen der britischen Regierung eine rasche Aufklärung des spektakulären Falles. Das Geheimversteck der Bande wird in kürzester Zeit gefunden, doch die Männer bleiben vorerst nur Phantome. Eine gründliche Spurensicherung bringt erste Hinweise auf die Räuber - doch wird es gelingen, auch den Kopf der Bande zu fassen?

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Der zweite Teil bildet nicht nur die Fortsetzung der Geschichte, sondern verlagert den Schwerpunkt vom Stehlen und Fliehen hin zum Jagen und Fangen. Die Arbeit der Kriminalpolizei in all ihrer schnöden Routine, straffen Hierarchie und akribischen Brillanz wird als Handwerk gezeigt, mit deren Werkzeugen denen beigekommen werden soll, die gegen die Ordnung des Staates verstoßen. Bruce Reynolds, der charismatische Anführer der Posträuber, hat sich dem Blick der Öffentlichkeit - und somit auch dem wohlwollenden Zuschauer - entzogen. Umso mehr steht nun der Mann im Mittelpunkt, der kalte Spuren wieder aufwärmt, falsche Fährten widerlegt und seine Nase in den Wind hält, um nicht nur das Geld, sondern auch die Diebe herbeizuschaffen. Jim Broadbent zeichnet seinen Mister Butler als analytischen Beobachter, der präzise vorgeht und alle Einzelheiten berücksichtigt. Auf seine Mitarbeiter wirkt er unzugänglich und kühl, aber auch scharfsinnig und gewissenhaft. Er misstraut der Geselligkeit seiner Untergebenen, weil er ganz für seinen Beruf lebt und sich lieber mit Sachthemen als mit Personen beschäftigt. Innerhalb des Teams spürt er die Konkurrenz durch einen jüngeren Kollegen, der jovial und flexibel vorgeht und deshalb einen besseren Zugang zu den Beamten hat. Die Jagd nach den Posträubern endet erst, als er den Mann fassen kann, dessen Energie und Einsatzbereitschaft ihm insgeheim imponieren: Bruce Reynolds. Ein stilles Bedauern, dass dieser Mann nicht mehr aus seinen Möglichkeiten gemacht hat und ebenso Kritik an der mangelnden Perfektion seines Planes, schwingen mit, wenn sich die Gegner am Ende aussprechen. Der Triumph über die vollständige Aufklärung des Falles hallt nicht lange nach: seiner Aufgabe beraubt, verkümmert der stille Denker und stirbt bald darauf.

Ging der Postraub verhältnismäßig rasch über die Bühne, so kostet es die Polizei weitaus mehr Kraft und Beharrlichkeit, den Fall aufzudröseln. Anhand kleinster Spuren werden Tathergang und aktueller Aufenthaltsort der wagemutigen Männer nachgezeichnet. Die kalte Wirklichkeit umfasst sie nach und nach und lässt ihren Traum nach einem freien Leben platzen. Die menschlichen Zwischentöne werden dezent eingestreut, um die Geradlinigkeit der Ermittlungen aufzubrechen, doch ist es vor allem die Hartnäckigkeit der Deduktion, die dem zweiten Teil Struktur verleiht. Die Konsequenzen für die Räuber sind zweitrangig und werden in schlichten Fakten nüchtern mitgeteilt. Einzig der Fall Reynolds lässt Raum für kurze Anteilnahme und gibt eine Aussicht auf die Tragik, die eine so lange Haftstrafe für das Umfeld und den Täter selbst bedeutet. Die professionelle Hommage an den berühmtesten Eisenbahnüberfall der Geschichte lebt von der zeitlichen Distanz, aus der der Fall erzählt wird. Im Gegensatz zur deutschen Verfilmung liegen hier alle Fakten vor und das Schicksal und die richtigen Namen der Beteiligten können als Personen der Zeitgeschichte offengelegt werden. Ohne falsche Sentimentalität, aber mit Respekt vor dem Einzelnen nähert sich James Strong dem Plot, der seinerzeit in der Öffentlichkeit die Wogen hochgehen ließ. Die Botschaft "Crime does'nt pay!" wird unterstrichen, allerdings auch die Ambivalenz der gesetzlichen Rechtsprechung angeprangert, die einerseits eine abschreckende Wirkung haben will, andererseits Verbrechen gegen Leib und Seele geringer bestraft als eine Beleidigung des Establishments. Denn als solche wird der Raub von Vertretern der Regierung Ihrer Majestät betrachtet. Bereits hier klaffen tiefe Gräben zwischen der Sympathie des gemeinen Volkes und dem Selbstverständnis der "oberen Zehntausend".

Sauber inszeniert und in eleganten Bildern marschiert Tommy Butler gegen eine unsichtbare Phalanx aus Männern, die seine Ansicht über Rechtschaffenheit ad absurdum stellen und dabei von der Bevölkerung als Popstars gefeiert werden. Präzise und stimmig ergänzt der zweite Teil seinen Vorgänger, wobei das Drehbuch sichtlich bemüht ist, den älteren und weniger dynamischen Butler als Ersatz für den verlorenen Mastermind zu präsentieren.

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