ANSICHTEN EINES CLOWNS - Vojtěch Jasný

Sexwellen, Kriminalspaß und andere Krautploitation.
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Prisma
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ANSICHTEN EINES CLOWNS - Vojtěch Jasný

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● ANSICHTEN EINES CLOWNS (D|1976)
mit Helmut Griem, Hanna Schygulla, Eva Maria Meineke, Gustav Rudolf Sellner, Hans Christian Blech, Alexander May,
Claudia Butenuth, Jan Niklas, Rainer Basedow, Norbert Hansing, Oscar Hancke, Eva Eschenbach sowie Helga Anders
eine Produktion der Filmaufbau | Independent Film | MFG Film | im Constantin Filmverleih
nach der gleichnamigen Erzählung von Heinrich Böll
ein Film von Vojtěch Jasný

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»Das hatte ich fast alles ganz vergessen!«


Hans Schnier (Helmut Griem) entstammt einer reichen Industriellen-Familie, deren Oberhäupter die Ansichten und Gesetze der Nazi-Ära nie ablegen konnten. 15 Jahre später sind sie allerdings alle der Meinung, genug bereut zu haben, was den Sohn des Hauses anwidert. Mit seiner Mutter (Eva Maria Meineke) trägt er erbitterte Psycho-Spiele aus, zu seinem Bruder (Jan Niklas) findet er keinerlei Zugang, nur an seine verstorbene Schwester denkt er sehr häufig, die er als Mahnmal für die Kriegsschuld der Eltern verwendet. Die Probleme wirken sich auch bis in sein Liebesleben aus, da er es nicht schafft, Marie (Hanna Schygulla), die Frau die er liebt, zu heiraten. Hans findet keinen Weg, sich mit der Gesellschaft, die er so vehement ablehnt, zu arrangieren und spielt den Clown...


»Katholiken machen mich nervös, weil sie unfair sind!«
»Und Protestanten?«
»Die machen mich krank mit ihrem Gewissensgefummel!«
»Und Atheisten?«
»Die langweilen mich, weil sie ständig von Gott sprechen.«
»Und was sind Sie eigentlich?«
»Ich? Ein Clown. Komiker.«


Der Glaube kann dem Mythos nach Berge versetzen oder einen beispielsweise krank machen, falls man sich ihm in Selbstaufgabe ergibt, allerdings kann er einen noch mehr aushöhlen, wenn man sich mit allem, was man hat, gegen ihn wehrt. Dieser Kampf gegen Gut, Böse und innere Dämonen geht von der Titelfigur Hans Schnier aus, dessen offene und versteckte Ansichten zum Elixier dieser hochqualifizierten Literaturverfilmung werden. Auch die Familie kann einen krank machen, falls man vor ihr kapituliert, jedoch kann dieses Auflehnen noch mehr dem Kampf gegen Windmühlen gleichen, wenn man sich dazu entschließt, zum hoffnungslosen Oppositionellen zu werden. Doch was bleibt zu sagen, wenn es die eigene Mutter war? Um gewisse Gesetze der Gesellschaft, der Familie oder des Glaubens annehmen zu können, muss man sicherlich viel Lehrgeld bezahlen, viel Kreide fressen, zurückstecken und simulierte Tode durchleben, bis es einigermaßen erträglich wird. Ob dies im Zustand der Resignation, des Annehmens oder des Wehrens passiert, unterliegt keinem gängigen Rezept, da sich Tausende gleiche äußere Einflüsse unterschiedlich anfühlen oder identisch aussehen können. Insofern liefert "Ansichten eines Clowns" scheinbar nichts Neues, doch schildert den (Über-)Lebenskampf eines Mannes sehr eindrücklich. Am Ende kann auch die Liebe krank machen, wenn man sie falsch oder sogar richtig erlebt, doch die Titelfigur stellt sich mit jeder vorhandenen Pore gegen das Unvermeidliche, das Normale und das Angenehme, um nicht wieder in einer Metamorphose der Alpträume aufzuwachen. Die Familie ist nichts wert, obwohl sie das Einzige ist, was ihm bleibt, der Glaube bestimmt kein guter Ratgeber, obwohl er allgegenwärtig, in grotesker Weise und je nach Bedarf sozusagen immanent oder transzendent ist, und auch die Liebe ist in jeglicher Hinsicht nicht auszuhalten, gerade wenn sie am schönsten ist. Das Dasein eines Clowns ist dem Empfinden nach unmenschlich, denn selbst wenn die Leute Tränen lachen, man somit das ursprüngliche Gefühl nicht mehr herausfiltern kann, ist er gezwungen, dass die erwartete Show weitergeht.

Am Ende darf der Krieg nicht vergessen werden. Er macht krank, er zerstört, er macht kaputt, nimmt die Unschuld, kehrt die Moral um, und im schlimmsten Fall hat er die Macht, alles zu nehmen - auch das Leben. Um ihn herum sitzen die schlauen und geschäftstüchtigen Profiteure und Kolporteure, die am Ende bereuen, vergessen, und dabei hoffen, dass es die anderen ebenso tun. Vor allem, wenn es um die eigene Schuld geht. Doch was passiert, wenn ein Clown auftaucht, den man aufgrund der Familienzugehörigkeit nicht einfach so heraus komplementieren kann? Regisseur Vojtěch Jasný (und natürlich Heinrich Böll) demonstrieren Kabinettstückchen der besonderen Art. Als passende Werkzeuge fungieren hier die exzellenten Darsteller. Was fehlt Helmut Griem, das andere zum Weltstar gemacht hat? Vielleicht die richtige Nationalität - wenn man es überspitzt formulieren will, wobei er seine internationalen Achtungserfolge hatte, auf nationaler Ebene jedoch nicht als verdienter Hochkaräter gilt. Schaut man sich seine Leistung in "Ansichten eines Clowns" in der Titelrolle an, kommt man ins Staunen über das brillante Handling einer nicht gerade einfachen schauspielerischen Mehrfachanforderung. Neben Hans gibt es eigentlich nur Nebenrollen, obwohl er den meisten anderen Personen selbst Hauptrollen einräumt. Das Vergessen wird unmöglich, das Verzeihen aussichtslos, das eigene Leben beschwerlicher als es sein müsste. Die Charaktere der Peripherie sind in Wirklichkeit Personen der Unmittelbarkeit. Seine Freundin, seine Mutter, seine Geschwister, seine Richter. Hervorragend und in eiskaltem und heißblütigem Kontrast agieren Eva Maria Meineke oder Hanna Schygulla, als erfreuliche Gäste überzeugen Helga Anders und Claudia Butenuth, denkwürdig zurückbleiben alle. Der tschechische Regisseur Vojtěch Jasný hat mit dieser Literaturverfilmung eine kleine Sternstunde erschaffen, die dem Zuschauer eine hochinteressante Deutungshoheit anbietet. So bleibt die geschilderte Thematik aktuell wie eh und je, denn im Grunde genommen muss man nur die hier auftretenden Leute durch andere Namen austauschen, und den heiligen Boden woanders suchen.

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