GRENZFÄLLE - Imo Moszkowicz

Sexwellen, Kriminalspaß und andere Krautploitation.
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Prisma
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GRENZFÄLLE - Imo Moszkowicz

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Eva Renzi

GRENZFÄLLE


● GRENZFÄLLE / GRENZFÄLLE - DIE VERBOTENE PFLICHT (D|1980) [TV]
mit Klaus Schwarzkopf, Dieter Schidor, Wolf von Gersum, Wolfram Schaerf, Pierre Franckh, Frank Straass, Ernst Dietz, Elisabeth Goebel,
Kurd Pieritz, Dieter Ohlendiek, Astrid Nestvogel, Michael von Rospatt, Karl-Heinz Gerdesmann, Reiner Brönneke, Jochen Schroeder, u.a.
eine Produktion der Sator Film | im Auftrag des ZDF
ein Fernsehfilm von Imo Moszkowicz

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»Man kann auch das Falsche hundertprozentig machen!«


Die Journalistin Anna (Eva Renzi) besucht ihren Vater in der DDR und kehrt nach gut einer Woche Aufenthalt wieder in die Bundesrepublik zurück. Anschließend sucht sie ihren väterlichen Freund Andreas (Klaus Schwarzkopf) auf, um ihm von ihren Erlebnissen zu berichten. Da die beiden sich sehr gut kennen und ein vertrautes Miteinander pflegen, weiß Andreas um ihr schwieriges Verhältnis zum DDR-Regime, immerhin flohen Anna und ihre Mutter noch vor dem Mauerbau in den Westen. Verstört berichtet Anna von ihrem Bruder Hans (Dieter Schidor), der mittlerweile in die Nationale Volksarmee eingetreten ist und dem Grenzschutz dient. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich ein kontroverses Gespräch zwischen Andreas und Anna und man debattiert darüber, wie weit die Pflichten in dieser Position eigentlich gehen...

Grenzfälle hat geschrieben:
... Am 1.8.1963 wird 3 km südlich von Hohengeiß im Harz am hellen Tag ein bereits verletzt liegen gebliebener Flüchtling von einem Unteroffizier der Grenztruppen der DDR mit einem Feuerstoß aus der Maschinenpistole getötet. Am gleichen Ort wird am 4.5.1965 gegen 14 Uhr ein junger Mann beim Versuch, die Grenze zu erreichen, durch Schüsse von Grenzsoldaten tödlich verletzt. am 4.8.1965 abends, 10 km östlich Friedland, wird der Postenführer einer Grenzstreife beim Fluchtversuch von seinem Kameraden erschossen. ...

Die deutsche TV-Landschaft kann nicht nur auf Jahrzehnte an Material schauen, sondern leider auch auf die mangelhafte Möglichkeiten der Verfügbarkeit, da unzählige Schätze in den Archiven der Öffentlich-Rechtlichen gefangen gehalten werden. Diese Fernsehproduktion von Imo Moszkowicz und Paul Mommertz sorgt zunächst wegen ihrer Top-Besetzung und ihrer Thematik für Aufsehen, zumal die kritische Auseinandersetzung mit der DDR über eine angriffslustige und überaus scharfzüngige Eva Renzi stattfindet, die wie üblich keine Rücksicht auf rhetorische Verluste nimmt. Als Gegenpart, beziehungsweise Gegengewicht, agiert Klaus Schwarzkopf, der - wie Renzi abschätzig bemerkt - mit einer buddhahaften Abgeklärtheit agiert. Es kommt zu einer Kette von Vorwürfen, die eine in Jena Geborene Journalistin inklusive breit angelegter Systemkritik für sich reklamiert. Da ihr Gegenüber in Westdeutschland geboren wurde, spricht sie ihm ein wenig das Urteilsvermögen über die vorherrschenden Zustände ab, und langsam aber intensiv und sicher entwickelt sich ein Streitgespräch in hochintensiver Form, da dieser Schlagabtausch mit untermauernden Tatsachenberichten und Erfahrungen, außerdem Widerlegungsattacken und Appellen durchzogen ist, um die Kehrseite der Medaille zu betrachten. Ein TV-Clash der besonderen Sorte beginnt durch die Moderatoren Eva Renzi und Klaus Schwarzkopf immer mehr zum Erlebnis zu werden. »Acht Tage DDR. Das kannst du dir nicht vorstellen!« Anna wirkt erschöpft, Andreas ein wenig in seiner Ruhe gestört, als sie es sich ganz selbstverständlich bei ihm bequem macht. Es ist davon auszugehen, dass die beiden nie als Liebespaar funktioniert haben; viel mehr noch, dass sie es nie ausprobiert haben. Also erlebt man ein intensives Gespräch zwischen wirklichen Freunden, welches aufgrund der platonischen Intimität auch mehrmals Wortspitzen, Brüskierungen oder Zurechtweisungen zulässt, ohne dass sich jemand gekränkt fühlt. Diese Auseinandersetzung in Rückblenden, aus der Erinnerung, Erfahrung und aus der bequemer wirkenden Distanz nimmt hochinteressante Züge an und stellt eine besondere Form der Auseinandersetzung dar.

Obwohl Andreas ein wenig vom Populärthema DDR genervt zu sein scheint, ist der ausgelöste Impuls - für Farbtöne zwischen Schwarz und Weiß zu sorgen - viel größer, und er lässt sich auf ein Kräfte zehrendes Gespräch ein, das dem Publikum sehr viele Denkanstöße, Fakten und auch Ängste zutage bringt. Die permanent hin und her geworfenen Pros und Contras dominieren dieses kammerspielartige Geschehen nachhaltig und teilweise auch unerbittlich, sodass beide Seiten zwischen aktiven und passiven Parts wechseln, sich in besseren oder schwächeren Positionen wiederfinden. Was geschieht, wenn eine vollkommen oppositionelle Kritikerin auf einen von Natur aus abwägenden Skeptiker trifft, Emotion und Temperament eine nahezu stoische Gelassenheit anzugreifen versuchen und man mit Genuss zu Gedanken gezwungen wird, die ohne das Gegenüber vielleicht nie zustande kommen würden? Eva Renzi und Klaus Schwarzkopf - deren Wahl bestimmt kein Zufall gewesen sein wird - sorgen für eine beinahe rastlose und daher strapaziöse Reise in differenzierte Auseinandersetzungen, die auch das beteiligte Publikum zum Denken (re)animieren. Darüber hinaus ist zu betonen, dass man im deutschen Film niemanden Günstigeren als Renzi und Schwarzkopf für diese äußerst schwierigen Interpretationen hätte finden können, auch wenn man sicherlich ein wenig vom jeweiligen Naturell der Interpreten profitieren konnte. Anna hat Bedenken, und seit sie in der DDR war auch Angst. Angst um ihren unmündig und in ihren Augen labil wirkenden Bruder, der Gefahr läuft, vom System geschluckt zu werden. Seine Linientreue ist für sie ein unerträglicher Gedanke, zumal sie das System abgrundtief verachtet. Mit Andreas diskutiert sie über den sogenannten Schießbefehl und die Möglichkeit, dass Soldaten ihr Gelöbnis im Zweifelsfall durchsetzen müssen. Annas Argumentation basiert auf einer lückenlosen Recherche, die ihrem Gesprächspartner Respekt abringt, ihn außerdem weniger angriffslustig agieren lässt. Das Publikum wird ebenso mit reichhaltigen Informationen aus Annas Fundus versorgt, indem man Zwischen- und Rückblenden sieht und sogar Interviewmaterial vom Band zu hören bekommt.

Obwohl sich dieses Streitgespräch in einer unberechenbaren Fasson präsentiert, sind es die bestehenden Tatsachen, die Überraschungen ausschließen, außerdem arbeitet Dieter Schidor als Annas Bruder mit einer erstaunlichen Präzision daran, ihre Befürchtungen und die des Publikums zu befeuern, indem man einen jungen Mann sieht, der Befehlen blind gehorcht und sich keine tieferen Fragen über das Leben, das Schicksal oder das System stellt. Anna kann und will diese Tatsachen einfach nicht begreifen und akzeptieren, denn immerhin handelt es sich bei ihnen um Geschwister, die ihrer Ansicht nach doch wenigstens einen Funken der gleichen Gesinnung haben müssten. Allerdings klammert sie die Umstände zweier verschiedener Leben aus, die nicht wegzudiskutieren sind und formen. Dienst und Eintritt in die SED sollen die Anwärter gefügig machen, denn die Partei braucht Augen und Ohren. Zu diesem Zweck wird Hans von seinen Kreide fressenden Vorgesetzten überredet, sich für Frondienste in der Partei zu verpflichten. Für Annas Begriffe wäre diese Verirrung schon genug Grund zur Sorge, doch ihr Aufhänger ist das Schreckgespenst namens Schießbefehl, zu welchem jeder im Zweifelsfall verpflichtet wäre. Zur Unterstreichung ihrer Anklage bemüht Anna diverse Statistiken und brisante juristische Beurteilungen bezüglich Schießbefehlen und Fluchtversuchen. Es scheint es so, als sei sie in Bibliotheken zu Hause, was ein Grundlevel an empfundener Erschöpfung erklären würde. Bei Andreas fühlt sie sich trotz Gegenwindes sehr wohl, denn das Prinzip Vertrauen gegen Vertrauen ist für eine Journalistin wie sie vielleicht eines der höchsten Güter, da sie die Tricks und Abgründe der Leute hinlänglich kennengelernt hat. Das Gespräch gleicht immer mehr einem Tauziehen und die beiden Akteure wirken nach einer gewissen Zeit ermüdet, doch die unbändige Lust, das Gegenüber vom jeweiligen Gegenteil zu überzeugen, ist größer als die Belastung der Gesprächsdynamik und der Anforderung permanenter Wachsamkeit. Für den Zuschauer erscheint es ab einem gewissen Zeitpunkt fraglich zu werden, ob man überhaupt einen gemeinsamen Nenner finden oder einen Artikel lesen wird.

So kommt es zu entschleunigenden Passagen und wertschätzenden, verständnisvollen Gesten, die einen immer wieder daran erinnern, dass man es eigentlich mit keinen Kontrahenten zu tun hat, sondern Gleichgesinnten mit unterschiedlichen Standpunkten. Für das Publikum ist diese Art des Diskurses eine wirklich sehr interessante rhetorische oder vielmehr didaktische Erfahrung, die im Rahmen eines einfachen Fernsehfilms vielleicht sogar zum Erlebnis werden kann, immerhin wird hier nicht nur über das schlechte oder schöne Wetter philosophiert. Imo Moszkowicz schafft hier recht einfache wenn auch sehr gut durchdachte Rahmenbedingungen und überlässt die Manege seinen Hauptdarstellern Klaus Schwarzkopf und Eva Renzi, die beide zu Höchstleistungen auflaufen und eine Leidenschaft in ihre fundierten, ausladenden, prägnanten, teils irritierenden und anspruchsvollen Dialoge legen. Mit immer wieder integrierten Rückblenden werden die zwei Parallelwelten, in denen die Geschwister leben, plastisch dargestellt, aber wie erwähnt gibt es keine Lösung des von Anna angeprangerten Problems. Unterm Strich bekommt man hier alle guten Töne der einschlägig bekannten TV-Produktion geboten, die überdies bereit ist, ihre mutigen Züge preiszugeben. Lösungsorientiert aber nicht verbissen, werden Argumente hin und her abgewogen, um darauf hinzuweisen, dass vielleicht jeder oder niemand Recht hat, oder vielleicht doch jeder ein bisschen. Man muss betonen, dass diese Form der Annäherung niemals so gut ohne Renzi und Schwarzkopf funktioniert hätte, da sie eigene Wesenszüge in der Angelegenheit platzieren, um das Publikum nicht zuletzt von sich selbst zu überzeugen - zumindest entsteht dieser Eindruck. Bei "Grenzfälle - Die verbotene Pflicht" handelt es sich leider um ein in Vergessenheit geratenes TV-Juwel, dessen Intensität und klare Mitteilungsbereitschaft beeindruckt und überrascht. Allerdings bleibt das Fazit der Angelegenheit nüchtern, da Andreas seiner Bekannten vollkommen direkt und ungeschönt mitteilt, dass er am Ende fürchtet, nicht genügend Konsumenten oder Leser zu finden, die sich für eine solche Geschichte überhaupt interessieren. Exzellent!



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