DIE STADT IST VOLLER GEHEIMNISSE - Fritz Kortner

Sexwellen, Kriminalspaß und andere Krautploitation.
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Percy Lister
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DIE STADT IST VOLLER GEHEIMNISSE - Fritz Kortner

Beitrag von Percy Lister »

"Die Stadt ist voller Geheimnisse" (Deutschland 1955)
mit: Annemarie Düringer, Werner Fuetterer, Walther Süssenguth, Margot Trooger, Adrian Hoven, Eva-Ingeborg Scholz, Carl Ludwig Diehl, Paul Hörbiger, Bruni Löbel, Erich Schellow, Grethe Weiser, Carl-Heinz Schroth, Lucie Mannheim, Karl Schönböck, Susi Nicoletti, Charles Regnier, Georg Thomalla, Wilfried Seyferth u.a. | Drehbuch: Fritz Kortner und Curt Johannes Braun nach dem gleichnamigen Theaterstück von Curt Johannes Braun | Regie: Fritz Kortner

Die Böhnke Werke beschäftigen rund 200 Mitarbeiter. Im Gegensatz zu anderen Fabriken, hat die Firma nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch nicht wieder richtig in die Spur gefunden. Der Betrieb sollte längst modernisiert werden, eine selbstschuldnerische Bürgschaft des Firmeninhabers könnte die Weichen dazu stellen. Doch Herr Böhnke weigert sich, mit seinem Vermögen für seine Firma zu haften und kündigt allen Mitarbeitern. Was wird aus der Telefonistin, die mit dem Werbefachmann des Unternehmens verlobt ist? Wird der Kassierer in seinem Alter noch eine neue Stellung finden? Wo soll die Reinigungskraft schlafen, wenn das Fabrikgebäude aufgelassen wird? Auf wen soll der Ingenieur warten, wenn die Chefsekretärin nicht mehr an der Bushaltestelle ein- und aussteigt? Das Leben dieser Menschen erfährt eine abrupte Veränderung, die weit über die finanziellen Überlegungen Böhnkes hinausreicht....

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Die Auswirkungen von Firmenentscheidungen auf das engere Privatleben der Angestellten, deren Abhängigkeit oftmals fatal ist, werden von Fritz Kortner in einer Panoramaübersicht der Firma Böhnke thematisiert, wobei die Episoden wie Zahnräder ineinandergreifen und jede auf ihre Weise von der Tragik des menschlichen Lebens erzählt. In einigen Fällen geht es gar um Leben oder Tod, wobei die Aussicht auf ein Ende der Gehaltszahlungen Panik und Verzweiflung auslöst und zur ungewollten Demaskierung einiger Charaktere führt, die bisher still und unauffällig ihrer Arbeit nachgekommen sind. Vorsätze gelten plötzlich nichts mehr, Beziehungen werden brüchig und Verpflichtungen drohen, die Personen in existentielle Schwierigkeiten zu stürzen. Tarnungen fliegen auf, Verdrängtes wird wieder wichtig und Lebensentwürfe werden neu geordnet, weil die Krise auch eine Chance ist, festgefahrene Strukturen zu hinterfragen. Während sich der Firmenleiter nur um die eigene Gesundheit und Alterssicherung sorgt, gibt es Figuren, die am Schicksal ihnen bisher fremder Personen Anteil nehmen und durch ihre Unterstützung für neuen Mut sorgen. Die Solidarität und Zuversicht bringen schließlich die Wende, weil sich die junge Generation in Gestalt der Tochter des Konzernchefs mit ihren Plänen für ein Fortbestehen der Firma durchsetzt und jene, die noch in der Vergangenheit verhaftet sind, abtreten. Das Flair der Fünfziger Jahre, mit einem noch sehr verhalten agierenden Wirtschaftswunder, durchzieht die Produktion in authentischer Weise, wobei das große Plus die teilweise noch sehr jungen prominenten Darsteller sind, deren Charme aus ungestümer Spielfreude, die noch nicht über die spätere Routine verfügt, resultiert. Oftmals muss man zweimal hinsehen, um Schauspielerinnen wie Bruni Löbel oder Eva-Ingeborg Scholz zu erkennen, zeitweise erkennt man die Schauspieler zuerst an ihrer Stimme. Die Handlung wirkt sehr authentisch, weil sie die Stimmung der Zeit einfängt und den Zuschauer durch eine lebendige Kameraführung und einen Erzähler, der die Protagonisten einführt, an deren Leben teilhaben lässt, als es aus der Bahn des Alltags geworfen und vor eine neue Herausforderung gestellt wird.

Die Rollenbilder werden bereits in den ersten Filmminuten mit typischen Charakterzügen ausgestattet. Annemarie Düringer ist die gewissenhafte ältere Schwester der schusseligen Eva-Ingeborg Scholz, die dem Leben noch mit einer unbeschwerten Leichtfüßigkeit begegnet und mit ihrem Freund Adrian Hoven Ausflüge ins Grüne macht. Bruni Löbel muss ihr kleines Gehalt auf den Pfennig genau einteilen und wirkt angesichts ihrer freudlosen Tage abgekämpft und traurig. Paul Hörbiger erinnert sich gern an seine Jugendzeit, als er Stunden der Zweisamkeit verbrachte und sein Weg nach der Arbeit nicht direkt in seine Mietsunterkunft führte. Gewissenhaft erledigt der korrekte Carl-Heinz Schroth seine Aufgaben, die bei ihm den ersten Platz in seinem beschaulichen Leben einnehmen. Grethe Weiser arrangiert sich mit der Geldknappheit, indem sie nach Büroschluss dort wohnt, wo andere untertags arbeiten und sich selbst die beste Gesellschafterin ist. Zwei Außenstehende fungieren als Analytiker der Persönlichkeiten, wobei Charles Regnier als Scharlatan-Zukunftsdeuter leichtfertig Unheil anrichtet, indem er falsche Prophezeiungen anstellt, während Erich Schellow durch eine empathische Beobachtungsgabe weiß, was Annemarie Düringer in ihrem Alltag entbehrt. Ihre Begegnung und der gemeinsame Tag, den sie verleben, wird von Fritz Kortner auf einnehmende Weise inszeniert, indem er seine Schauspieler natürlich und unverstellt agieren lässt und die Stationen des Erlebten in atmosphärische Bilder kleidet. Die Ereignisse des Wochenendes markieren wichtige Meilensteine im Leben der Angestellten, weil sie in eine Ausnahmesituation geraten, die nach neuen Lösungswegen verlangt. Nicht alle Beteiligten werden mit neuer Kraft daraus hervorgehen, weil es immer wieder Zäsuren im Leben gibt. Obwohl der Film kommerziell kein Erfolg wurde, stellt er doch ein bemerkenswertes Stück kinematographischer Unterhaltung dar, das Einblick in die Sorgen und Wünsche von Angestellten eines mittelständischen Betriebs nimmt, der den Anschluss an die Segnungen des Wohlstands noch nicht geschafft hat und deshalb viel Nostalgie im Gepäck führt.

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