HEILSTÄTTEN - Michael David Pate

Sexwellen, Kriminalspaß und andere Krautploitation.
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Percy Lister
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Registriert: Sa., 14.11.2020 16:15

HEILSTÄTTEN - Michael David Pate

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"Heilstätten" (Deutschland 2018)
mit: Sonja Gerhardt, Tim Oliver Schultz, Nilam Michaela Farooq, Emilio Sakraya, Lisa-Marie Koroll, Timmi Trinks, Farina Flebbe, Maxine Kazis, Davis Schulz, Leon Machère, Huong Chau Doan u.a. | Drehbuch: Michael David Pate und Eckehard Ziedrich | Regie: Michael David Pate

Um ihrem YouTube-Publikum neuen Nervenkitzel zu bieten, veranstalten Charly, Finn und Betty, sowie Marnie und Theo eine "Challenge", indem sie vierundzwanzig Stunden in den verfallenen Beelitz-Heilstätten verbringen wollen. Ausgestattet mit dem nötigen technischen Equipment, erkunden sie das Gebäude, wobei sich die Gruppe trennt und jeder für sich Eindrücke mit seinem Handy sammelt. Betty betritt einen Raum, in dem eine Frau in einer Badewanne voller Blut sitzt, ein Hilferuf in Sütterlinschrift an der Wand verkündet Unheil. Theo erzählt die Geschichte einer ehemaligen Patientin der Heilstätten, die sich die Pulsadern aufschnitt. Marnie berichtet über die "Bestie von Beelitz", die Ende der Achtziger Jahre mehrere Frauenmorde beging. Die Angst unter den Jugendlichen wächst, je dunkler es draußen wird und desto tiefer sie in die verschachtelten Gänge des Komplexes eindringen. Bald schon kommt es zu den ersten tätlichen Angriffen auf die Mitglieder der Gruppe....

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Auf der Suche nach dem ultimativen K(l)ick setzen sich immer mehr Jugendliche Gefahren aus und nehmen Herausforderungen wahr, die in der reizüberfluteten Welt unserer Tage eine Ausnahme darstellen, weil sie Tabus brechen und sich in den Weiten der digitalen Parallelwelt gut verkaufen. Wer etwas auf sich hält, lebt online. Jede Gefühlsregung, jede noch so unbedeutende Nuance des Alltags wird kommuniziert und erhält aus irgendeiner Nische Aufmerksamkeit. Die Frage nach dem Warum ist zweitrangig, obwohl sie interessanter Gegenstand der psychischen Gesundheit sein kann. Was zählt, ist die messbare Anzahl jener, welche am eigenen Leben Anteil nehmen und sei es auch nur durch das Bedienen der Maustaste, die ein "Like" aktiviert, das in der Online-Welt als höchste Auszeichnung für Selbstdarstellung betrachtet wird und den eigenen (Markt-)Wert um Vielfaches nach oben schnellen lässt. Zweifellos ist die Faszination für das Morbide nichts Neues und wird in einer technisch nach Perfektion strebenden Umwelt immer größer, weil verlassene Orte, die nicht mehr im Sinne von Profitdenken und Allgemeinwohl genutzt werden, im Grunde eine Provokation an die durchstrukturierte moderne Gesellschaft darstellen. Sie erinnern mit ihrer melancholischen Präsenz an unsere eigene Vergänglichkeit.

Der architektonische Mittelpunkt der Produktion - Beelitz Heilstätten - stand für die Dreharbeiten nicht zur Verfügung. Die Zustimmung für das Projekt wurde verweigert, weil der Schauplatz in den letzten Jahren an Bekanntheit in "Lost Places"-Kreisen gewann und das Gelände mittlerweile durch eine Öffnung für Interessierte weniger verlassen ist. Ein adäquater Ersatz wurde in den nördlich von Berlin liegenden Heilstätten Grabowsee gefunden. Als Lungenheilstätte im Jahr 1896 gegründet, machte sie es sich zur Aufgabe, der Volkskrankheit Tuberkulose entgegenzuwirken. Die Entwicklung der Anlage nahm einen ähnlichen Verlauf wie in Beelitz und Hohenlychen, wo es ebenfalls nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Übernahme durch die Sowjets kam, welche die Gebäude für militärische Zwecke als Hospital nutzten. Der Einsatz großer Geldsummen für die Errichtung der Heilstätten ist trotz des fortschreitenden Verfalls noch sichtbar. Die erhabene Schönheit der Treppenhäuser, der leeren Aufzugschächte oder der gefliesten Räume, verströmt jene Melancholie, der viele Menschen in unserer lauten Zeit gerne nachhängen und die eine ganze "Lost Places"-Industrie nach sich gezogen hat, was für die abgelegenen Ruinen nicht immer von Vorteil ist.

Regisseur Michael David Pate sagt in einem Gespräch mit der "Märkischen Allgemeinen Zeitung": "Die Protagonisten sind ignorante, naive Youtuber, die nicht ernsthaft das Ziel haben, einem Mysterium auf den Grund zu gehen, sondern die vor allem Klicks generieren wollen. Das ist ja ein großes Thema: Junge Menschen möchten berühmt werden, indem sie Bilder posten. Das war der Antrieb, das Drehbuch umzuschreiben und auf eine junge Zielgruppe zu münzen." Zur Frage, wie gruselig ein Horrorfilm heute sein muss, erklärt er: "Das Publikum ist abgebrüht heutzutage, es kennt schon alles. Früher konnte man im Off und in der Vorstellungskraft Horror erzeugen, heute funktioniert das nicht mehr so einfach. Ich habe viel mit der Dunkelheit gespielt, sie bedeutet Ungewissheit und erzeugt Angst. Taschenlampen und Kerzen waren die einzigen Lichtquellen, nichts ist ausgeleuchtet. Das war für mich auch eine Herausforderung, weil ich zulassen musste, dass man auf einem Bild möglicherweise fast nichts erkennt. Außerdem haben wir mit subjektiven Kameras gearbeitet, die den Zuschauer reinziehen." Besonders erfolgreich war "Heilstätten" beim lateinamerikanischen Publikum.

Die Darsteller werden von der vielbeschäftigten Sonja Gerhardt angeführt, die einen Sonnenstrahl inmitten der Gruppe bildet. Man kann sich als Zuschauer gut auf sie einlassen, weil sie ihre Schwächen offenbart und frei von abgehobener Selbstüberschätzung ist. Sie ist zwar Teil der Gruppe, loggt sich aber als Quereinsteiger ein, weil sie dem Projekt skeptisch gegenüber steht. Vor allem Emilio Sakraya und Timmi Trinks stehen sinnbildlich für den oberflächlichen Spaß durch Übertreibung und eine Jagd nach Effekten. Die Gewöhnung an ihr Sprechtempo und die teilweise undeutliche Artikulation - besonders in Gefahrensituationen - zeigt den Unterschied zwischen klassisch ausgebildeten Schauspielern und Selfmade-Stars auf. Die Texte wurden sogar mitunter improvisiert und so wirkt der Film ein wenig wie eine Mischung aus "Blair Witch Project" und Heimvideo, was sicher beabsichtigt ist. Erstaunlicherweise entsteht eine gewisse Gewöhnung, sobald die Handlung tiefer in die enigmatischen Räumlichkeiten eintaucht. Die persönliche Bedrohung der Charaktere steigert das Wohlwollen des Zuschauers gegenüber den Influencer-Individualisten.

Trotz aller anfänglichen Vorbehalte, die das Intro mit seinen schnellen Schnitten, der bunten Kulissen und lauten Akteure hervorruft, versteht es "Heilstätten", den interessierten Spukhaus-Filmfreund zu fesseln, besonders, da es sich durch die deutschen Schauplätze um vertraute Örtlichkeiten handelt, die in unheimlichen Bildern inszeniert werden. Wie in einem Spinnennetz gibt es für die Figuren keine Möglichkeit, sich aus der fatalen Verstrickung zu lösen. Die Ausweglosigkeit erscheint jedoch nicht schicksalshaft, wie es oft in internationalen Produktionen beschworen wird, sondern als eine Verkettung von unglücklichen Umständen. Die Omnipräsenz der (sozialen) Medien ist Fluch und Segen zugleich, weil sie Lösungen aufzeigt und anbietet, das Publikum jedoch in der Schwebe gelassen wird, was nun Wirklichkeit oder Fiktion ist. Der Tod vor laufenden Kameras verstört selbst jene, die ihn herausgefordert und gesucht haben. Das Finale gibt dem Zuschauer noch ein letztes Rätsel mit auf den Weg, bevor er sich wieder seinem Smartphone zuwendet und die nächste große Welle der Reizüberflutung über ihn hereinbricht. Authentischer Schrecken für alle, die gern dabei sind, ohne selbst den Kopf hinzuhalten.

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